Klappentext:
In Tarot und die Kunst der Selbsterkenntnis präsentiert Matthias Thiele eine Synthese aus jüngsten psychologischen Erkenntnissen und traditionellen Vorstellungen des Tarots.
Ausgehend von Konzepten moderner Entwicklungspsychologie, des Yoga, Buddhismus und abendländischer Mystik entwirft der Autor eine umfassende integrale Kartografie menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten. Auf diese Weise illustriert er unsere Wachstumspotenziale in Form von intensiven Bildern unseres Unterbewussten.
Ebenso lebendig wie fundiert geschrieben gibt dieses Buch dem Leser ein wertvolles Instrument zu Selbsterkundung und Wachstum in die Hand.
„Psychologie ist für mich eine geheimnisvolle Wissenschaft von der menschlichen Existenz, die weit über die akademischen Inhalte hinausgeht. In mein Konzept von Psychologie und Therapie fließen Elemente aus Wissenschaft, Yoga, Weisheitstraditionen, psychotherapeutischen und alternativen Heilkonzepten und spirituellen Überlieferungen verschiedener Kulturen.“
Aus dem Buch:
Einleitung
Als ich vor etwa achtzehn Jahren auf einer ziemlich verrückten Reise durch den Süden Englands dem Tarot zum ersten Mal begegnet bin, ahnte ich noch nicht, dass diese geheimnisvollen Karten einmal mein späteres Verständnis der Psychologie so stark beeinflussen würden. Während meines Studiums lebte ich in einer merkwürdig geteilten Geisteswelt. Einerseits fühlte ich mich der strengen Methodik der Wissenschaft und Psychologie verpflichtet, andererseits entdeckte ich jenseits der Universität nicht minder spannende Erfahrungsfelder. Ich begann, Hatha-Yoga zu betreiben, zu meditieren, las die Bücher von Krishnamurti und später von Sri Aurobindo, dem Begründer des integralen Yoga. Während meiner Arbeit als Psychologe musste ich immer wieder feststellen, dass die meist unverbunden nebeneinanderstehenden Theorien der modernen Psychologie sich für die psychologische Praxis als ungenügend und zu wenig praktikabel herausstellten. Ich suchte nach einer Verbindungsmöglichkeit, um all die Puzzlesteinchen zu einem Ganzen zusammenzufügen. Mich störten die Vorbehalte der meisten Wissenschaftler, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die jenseits ihrer engen spezialisierten Domäne lagen, vor allem allerdings die verachtende Ablehnung aller esoterischer Erfahrung. Subjektive Erfahrungen im Bereich des Inneren, also der Esoterik, gehören meines Erachtens zur Erfahrungswelt des Menschen. Durch die eigenen Erfahrungen in Yoga und Meditation, aber auch mit einigen abendländischen spirituellen Disziplinen und esoterischen Methoden entstand in mir immer mehr das Bedürfnis, diese in psychologische Modelle über den Menschen zu integrieren. Was taugt eine psychologische Theorie, wenn sie einen so wesentlichen Anteil der menschlichen Psyche von vornherein aufgrund eigenen Dünkels ausklammert? Es musste eine Möglichkeit geben, die spirituellen und esoterischen Erfahrungen und Überlieferungen mit der modernen Psychologie zu einem Ganzen zu verweben.
Diese beiden unversöhnlichen Wege – das strenge methodische Denken an der Universität und meine philosophisch-spirituellen Privatstudien – schienen plötzlich zueinanderfinden zu können, als ich die Transpersonale Psychologie entdeckte, aus der später die Integrale Psychologie hervorgegangen war. Mir wurde schlagartig klar, dass es nur eines hinreichend allgemeinen Modells menschlicher Entwicklung bedurft hatte, eines Modells, das in der Lage ist, zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden, was bislang lose und unverbunden nebeneinandergestanden hatte.
Wie vor mehr als 40 Jahren Abraham Maslow die Humanistische Psychologie als ‚dritte Kraft‘ nach der Freudianischen Psychoanalyse und dem positivistisch ausgerichteten Behaviorismus ausrief, so scheint heute die Integrale Psychologie des amerikanischen Vordenkers Ken Wilber ein völlig neues Paradigma in der Psychologie einzuleiten. Ein Paradigma ist mehr als nur eine weltanschauliche Ausrichtung; im strengeren Sinne bezeichnet ein Paradigma ein prinzipielles erkenntnistheoretisches Vorgehen. Während der Behaviorismus eine präzise Forschungsmethodik als maßgebliches Kriterium einer Wissenschaft am Menschen proklamierte, verwies die Humanistische Psychologie auf den Menschen selbst, seine Bedürfnisse und sein ihm inhärentes Entfaltungspotenzial. Die von dem Humanisten Maslow erstmals verkündete Transpersonale Psychologie stellte keine neuen paradigmatischen Prämissen zur Verfügung, sondern postulierte durch die Assimilation buddhistischer und yogischer Philosophien einen dem personalen oder egoischen Entwicklungsweg nachgeordneten transpersonalen Entwicklungsbereich, in welchem sich die Identifikation des Bewusstseins von der Person zugunsten eines umfassenderen Seelenraumes lösen könne. Die Person an sich sei dann nur noch Teil des nun umfassenderen Bewusstseins des Menschen.
Das Potenzial zu einem neuen Paradigma zeigt die Integrale Psychologie durch ihre Herangehensweise, ihre Methodik. Sie verwirft nicht; sie versucht zu integrieren. Sie akzeptiert Widersprüche zwischen verschiedenen Theorien und Ansätzen und sucht nach Verbindungen. Sie verlangt nicht nach einer Entscheidung, sondern lässt in Beziehung zueinanderstehen, was bislang nicht vereinbar schien. Der Behaviorismus wollte das psychoanalytische Paradigma ablösen; die Integrale Psychologie will nicht ablösen, sondern zurechtrücken, sortieren, Perspektiven miteinander verschmelzen. Ihre Inhalte folgen dementsprechend den Befunden der unterschiedlichsten Forschungsrichtungen: Die Integrale Psychologie akzeptiert die psychoanalytischen Erkenntnisse über die Entwicklung in der Kindheit, ergänzt um die Theorien der kognitiven Entwicklung, fügt die Stufen der Moralentwicklung passend ein, ergänzt die Entwicklungsleiter, die nach der klassischen Entwicklungspsychologie im frühen Erwachsenenalter jäh endet, um die von buddhistischen und hinduistischen Schulen beschriebenen transpersonalen Bewusstseinsstrukturen. Mehr noch: Historische Zeugnisse von Mystikern, Yogis oder Kirchenvätern über die Bemühungen ihrer Bewusstseinsentwicklung werden auf Übereinstimmungen untersucht und vergleichend nebeneinandergestellt.
Die Integrale Psychologie, so können wir zusammenfassen, bemüht sich um die Synthese derzeit konkurrierender als auch historischer Erklärungsmodelle.
Gemäß der methodischen Ausrichtung der Integralen Psychologie bin ich an allem interessiert, was irgendwie mit menschlichem Bewusstsein zu tun hat. Und so entfachte sich auf ein Neues mein Interesse am Tarot, das ich mittlerweile für eine esoterische Episode meiner Jugend gehalten hatte.
Diese Karten, deren ersten überlieferten Exemplare aus der Zeit der Renaissance in Italien stammen, bestehen aus den uns landläufig bekannten vier Grundfarben mit Zahlkarten und darauf folgenden Hofkarten und aus einer zusätzlichen geheimnisvollen Reihe von 22 Karten, die mit römischen Zahlen beziffert sind und Namen tragen, die jedem Menschen, nicht nur der Renaissance, etwas sagen dürften. Ich führte fasziniert einige Tarotlegungen durch und war von ihrem Erkenntnispotenzial positiv überrascht. Mir fielen die sogenannten projektiven Testverfahren aus der klinischen Psychodiagnostik ein, bei denen die Probanden frei assoziieren, was sie in den Vorgaben glauben zu sehen. Dabei würde, so die psychologische Annahme, Unbewusstes projiziert, „es lockt also hervor, was Eigenwelt des Probanden ist“. Doch auch das vorgelegte Material selbst entscheide über die Themen, die projiziert werden. Wenn das Material bereits thematisch eine Anmutungsqualität assoziiert, werden demzufolge genau diese Themen im Probanden angeregt und seine projizierten Inhalte sind Wiedergaben dessen, was in diesem Themenbereich in seinem Unbewussten liegt. So könnte man den Tarot für eine Art projektives Verfahren halten, das zur freien Assoziation durch die vorgegebenen Kartenthemen anregt.
Durch Vergleiche der Großen Arkana mit den Modellen der integralen Psychologie kam ich zu dem Schluss, dass sich in ihnen die Stufen der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins widerspiegeln, und zwar in einer Reihenfolge, die sich mit derjenigen der Transpersonalen und Integralen Psychologie verblüffend deckt.
Zunächst fiel mir auf, dass die Reihe der Großen Arkana mit der Darstellung von menschlichen Figuren beginnt und mit kosmischen Symbolen endet. Das erinnerte mich an die entwicklungspsychologische Ordnung der Integralen Psychologie, die präpersonale, personale und transpersonale Stadien des Bewusstseins in einem Metamodell aus Entwicklungstheorien vereint. Die Idee – zu jenem Zeitpunkt nicht mehr als eine Vermutung –, dass sich in den Karten ein validierbares Entwicklungsmodell verbarg, war geboren. Es begann eine Zeit intensiver Recherchen und – als ich mit den Beschreibungen der Karten als psychogenetische Felder begann – eine Zeit sehr persönlicher Selbsterkundung. Die wissenschaftliche Arbeit wurde zunehmends verwoben mit einer psychologischen und spirituellen Reise durch die Karten der Großen Arkana. Die objektive (wissenschaftliche) Sicht, so erkannte ich, kann sinnvoll ergänzt werden durch die Perspektive der eigenen Erfahrung und Selbsterkundung.
Eine der Methoden der Integralen Psychologie ist der interdisziplinäre Vergleich, um eine Theorie oder ein Modell über menschliche Entwicklung hinreichend zu validieren. Wenn zum Beispiel Sigmund Freud das Bedürfnis nach Angenommensein und Zuwendung (orale Phase) zeitlich vor das Entstehen des Bedürfnisses des Kindes nach Abgrenzung (anale Phase) platziert, so sollten andere Theorien dem nicht widersprechen, wenn nicht eines der Modelle falsch sein sollte. Überlegungen, ob der Tarot ein Entwicklungsmodell bereitstellt oder nicht, würden sich sofort erübrigen, wenn die Karte IV-Kaiser vor der III-Kaiserin oder an ganz anderer Stelle in der Reihe seinen Platz hätte. Solche Fälle, wie zu sehen sein wird, kommen erstaunlicherweise nicht vor. Da die Karten der Großen Arkana abgegrenzte Entwicklungsbereiche des Menschen repräsentieren, habe ich sie psychogenetische Felder genannt und daraus ein entsprechendes psychologisches Entwicklungsmodell menschlichen Bewusstseins abgeleitet.
In diesem Buch werde ich das entsprechende Belegmaterial vorlegen und ausführlich kommentieren.
Uns wird weiter die Frage beschäftigen, wie ein solches, wenn auch ikonisches, Entwicklungsmodell in der Renaissance entstehen konnte und wie es sich zu den Grundannahmen der Integralen Psychologie verhält.
Dieses Buch gliedert sich in vier Teile:
Die theoretischen Grundlagen, Einführungen in integrale und klassische Entwicklungspsychologie und die Herleitung des Modells der psychogenetischen Felder (pgFelder) sind Thema des Teils I.
Teil II beschreibt ausführlich jede Karte der Großen Arkana und stellt diese in den Zusammenhang des Modells der pgFelder. Ungeduldige Leser mit Vorkenntnissen in Entwicklungspsychologie können Teil I vorerst überspringen und die Lektüre mit Teil II beginnen.
Teil III bindet die Kleinen Arkana und die Hofkarten des Tarot in ein umfassendes philosophisches Erklärungsmodell ein und enthält Deutungsvorschläge zu diesen Karten.
Teil IV widmet sich der Praxis des Tarot. Darin wird das pgFeld-Modell als Screening-Instrument zur persönlichen Selbsterkundung besprochen und im Anschluss neue Legesysteme des Tarot vorgestellt, die hier als projektive Verfahren, inspiriert durch die projektive Psychodiagnostik, behandelt werden. Bevor man Legungen durchführt, bietet es sich an, die Einführungen zu den Kleinen Arkana und den Hofkarten durchzulesen, um diese Karten besser interpretieren zu können.
Im Anhang finden Sie zusammenfassende Kurzübersichten und ein Quellenverzeichnis.
Die Grenzen zwischen Philosophie und Psychologie verschwimmen angesichts der komplexen Thematik.
Ich möchte deshalb anregen, dieses Buch in erster Linie als psychologisch-philosophisches Lesebuch aufzunehmen. Es ist allerdings so konzipiert, dass es sich – nach der Lektüre – auch als Nachschlagewerk und Manual zur Arbeit mit dem Tarot nutzen lässt. Neue, aus psychologischen Modellen hergeleitete Legesysteme, die als projektive Verfahren aufgefasst werden, werden im Anhang vorgestellt.
Meine Darlegungen und das Modell der psychogenetischen Felder, das ich aus den Großen Arkana des Tarot ableite, sind als ein vorläufiger Abriss zu verstehen und die Kommentare zu den einzelnen Karten oder, wie ich sie nenne, psychogenetischen Feldern, erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Der Tarot erlebt derzeit seine Blüte, nie waren die Karten so populär wie heute. Hunderte im Handel erhältlicher verschiedener Sets mit den unterschiedlichsten ästhetischen Motiven, sprechen von seiner Beliebtheit.
Es ist schwer zu sagen, ob dieses Buch das Spektrum der Deutungsmöglichkeiten des Tarot erweitert oder ob, mithilfe dieses alten europäischen Kulturguts, die Integrale Psychologie um eine weitere Perspektive bereichert wird. Möge beides zutreffen.
Ich möchte den Leser zu einem wagemutigen Abenteuer des Geistes einladen und hoffe mit diesem Buch einen inspirierenden Beitrag zur Selbsterkenntnis leisten zu können.
Der Tarot ist das Spielfeld dieses Buches – die Spieler aber sind Sie und das Spiel, das Sie spielen, ist das Ihres Bewusstseins. Viel Vergnügen!
Klappentext:
In Tarot und die Kunst der Selbsterkenntnis präsentiert Matthias Thiele eine Synthese aus jüngsten psychologischen Erkenntnissen und traditionellen Vorstellungen des Tarots.
Ausgehend von Konzepten moderner Entwicklungspsychologie, des Yoga, Buddhismus und abendländischer Mystik entwirft der Autor eine umfassende integrale Kartografie menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten. Auf diese Weise illustriert er unsere Wachstumspotenziale in Form von intensiven Bildern unseres Unterbewussten.
Ebenso lebendig wie fundiert geschrieben gibt dieses Buch dem Leser ein wertvolles Instrument zu Selbsterkundung und Wachstum in die Hand.
„Psychologie ist für mich eine geheimnisvolle Wissenschaft von der menschlichen Existenz, die weit über die akademischen Inhalte hinausgeht. In mein Konzept von Psychologie und Therapie fließen Elemente aus Wissenschaft, Yoga, Weisheitstraditionen, psychotherapeutischen und alternativen Heilkonzepten und spirituellen Überlieferungen verschiedener Kulturen.“
Aus dem Buch:
Einleitung
Als ich vor etwa achtzehn Jahren auf einer ziemlich verrückten Reise durch den Süden Englands dem Tarot zum ersten Mal begegnet bin, ahnte ich noch nicht, dass diese geheimnisvollen Karten einmal mein späteres Verständnis der Psychologie so stark beeinflussen würden. Während meines Studiums lebte ich in einer merkwürdig geteilten Geisteswelt. Einerseits fühlte ich mich der strengen Methodik der Wissenschaft und Psychologie verpflichtet, andererseits entdeckte ich jenseits der Universität nicht minder spannende Erfahrungsfelder. Ich begann, Hatha-Yoga zu betreiben, zu meditieren, las die Bücher von Krishnamurti und später von Sri Aurobindo, dem Begründer des integralen Yoga. Während meiner Arbeit als Psychologe musste ich immer wieder feststellen, dass die meist unverbunden nebeneinanderstehenden Theorien der modernen Psychologie sich für die psychologische Praxis als ungenügend und zu wenig praktikabel herausstellten. Ich suchte nach einer Verbindungsmöglichkeit, um all die Puzzlesteinchen zu einem Ganzen zusammenzufügen. Mich störten die Vorbehalte der meisten Wissenschaftler, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die jenseits ihrer engen spezialisierten Domäne lagen, vor allem allerdings die verachtende Ablehnung aller esoterischer Erfahrung. Subjektive Erfahrungen im Bereich des Inneren, also der Esoterik, gehören meines Erachtens zur Erfahrungswelt des Menschen. Durch die eigenen Erfahrungen in Yoga und Meditation, aber auch mit einigen abendländischen spirituellen Disziplinen und esoterischen Methoden entstand in mir immer mehr das Bedürfnis, diese in psychologische Modelle über den Menschen zu integrieren. Was taugt eine psychologische Theorie, wenn sie einen so wesentlichen Anteil der menschlichen Psyche von vornherein aufgrund eigenen Dünkels ausklammert? Es musste eine Möglichkeit geben, die spirituellen und esoterischen Erfahrungen und Überlieferungen mit der modernen Psychologie zu einem Ganzen zu verweben.
Diese beiden unversöhnlichen Wege – das strenge methodische Denken an der Universität und meine philosophisch-spirituellen Privatstudien – schienen plötzlich zueinanderfinden zu können, als ich die Transpersonale Psychologie entdeckte, aus der später die Integrale Psychologie hervorgegangen war. Mir wurde schlagartig klar, dass es nur eines hinreichend allgemeinen Modells menschlicher Entwicklung bedurft hatte, eines Modells, das in der Lage ist, zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden, was bislang lose und unverbunden nebeneinandergestanden hatte.
Wie vor mehr als 40 Jahren Abraham Maslow die Humanistische Psychologie als ‚dritte Kraft‘ nach der Freudianischen Psychoanalyse und dem positivistisch ausgerichteten Behaviorismus ausrief, so scheint heute die Integrale Psychologie des amerikanischen Vordenkers Ken Wilber ein völlig neues Paradigma in der Psychologie einzuleiten. Ein Paradigma ist mehr als nur eine weltanschauliche Ausrichtung; im strengeren Sinne bezeichnet ein Paradigma ein prinzipielles erkenntnistheoretisches Vorgehen. Während der Behaviorismus eine präzise Forschungsmethodik als maßgebliches Kriterium einer Wissenschaft am Menschen proklamierte, verwies die Humanistische Psychologie auf den Menschen selbst, seine Bedürfnisse und sein ihm inhärentes Entfaltungspotenzial. Die von dem Humanisten Maslow erstmals verkündete Transpersonale Psychologie stellte keine neuen paradigmatischen Prämissen zur Verfügung, sondern postulierte durch die Assimilation buddhistischer und yogischer Philosophien einen dem personalen oder egoischen Entwicklungsweg nachgeordneten transpersonalen Entwicklungsbereich, in welchem sich die Identifikation des Bewusstseins von der Person zugunsten eines umfassenderen Seelenraumes lösen könne. Die Person an sich sei dann nur noch Teil des nun umfassenderen Bewusstseins des Menschen.
Das Potenzial zu einem neuen Paradigma zeigt die Integrale Psychologie durch ihre Herangehensweise, ihre Methodik. Sie verwirft nicht; sie versucht zu integrieren. Sie akzeptiert Widersprüche zwischen verschiedenen Theorien und Ansätzen und sucht nach Verbindungen. Sie verlangt nicht nach einer Entscheidung, sondern lässt in Beziehung zueinanderstehen, was bislang nicht vereinbar schien. Der Behaviorismus wollte das psychoanalytische Paradigma ablösen; die Integrale Psychologie will nicht ablösen, sondern zurechtrücken, sortieren, Perspektiven miteinander verschmelzen. Ihre Inhalte folgen dementsprechend den Befunden der unterschiedlichsten Forschungsrichtungen: Die Integrale Psychologie akzeptiert die psychoanalytischen Erkenntnisse über die Entwicklung in der Kindheit, ergänzt um die Theorien der kognitiven Entwicklung, fügt die Stufen der Moralentwicklung passend ein, ergänzt die Entwicklungsleiter, die nach der klassischen Entwicklungspsychologie im frühen Erwachsenenalter jäh endet, um die von buddhistischen und hinduistischen Schulen beschriebenen transpersonalen Bewusstseinsstrukturen. Mehr noch: Historische Zeugnisse von Mystikern, Yogis oder Kirchenvätern über die Bemühungen ihrer Bewusstseinsentwicklung werden auf Übereinstimmungen untersucht und vergleichend nebeneinandergestellt.
Die Integrale Psychologie, so können wir zusammenfassen, bemüht sich um die Synthese derzeit konkurrierender als auch historischer Erklärungsmodelle.
Gemäß der methodischen Ausrichtung der Integralen Psychologie bin ich an allem interessiert, was irgendwie mit menschlichem Bewusstsein zu tun hat. Und so entfachte sich auf ein Neues mein Interesse am Tarot, das ich mittlerweile für eine esoterische Episode meiner Jugend gehalten hatte.
Diese Karten, deren ersten überlieferten Exemplare aus der Zeit der Renaissance in Italien stammen, bestehen aus den uns landläufig bekannten vier Grundfarben mit Zahlkarten und darauf folgenden Hofkarten und aus einer zusätzlichen geheimnisvollen Reihe von 22 Karten, die mit römischen Zahlen beziffert sind und Namen tragen, die jedem Menschen, nicht nur der Renaissance, etwas sagen dürften. Ich führte fasziniert einige Tarotlegungen durch und war von ihrem Erkenntnispotenzial positiv überrascht. Mir fielen die sogenannten projektiven Testverfahren aus der klinischen Psychodiagnostik ein, bei denen die Probanden frei assoziieren, was sie in den Vorgaben glauben zu sehen. Dabei würde, so die psychologische Annahme, Unbewusstes projiziert, „es lockt also hervor, was Eigenwelt des Probanden ist“. Doch auch das vorgelegte Material selbst entscheide über die Themen, die projiziert werden. Wenn das Material bereits thematisch eine Anmutungsqualität assoziiert, werden demzufolge genau diese Themen im Probanden angeregt und seine projizierten Inhalte sind Wiedergaben dessen, was in diesem Themenbereich in seinem Unbewussten liegt. So könnte man den Tarot für eine Art projektives Verfahren halten, das zur freien Assoziation durch die vorgegebenen Kartenthemen anregt.
Durch Vergleiche der Großen Arkana mit den Modellen der integralen Psychologie kam ich zu dem Schluss, dass sich in ihnen die Stufen der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins widerspiegeln, und zwar in einer Reihenfolge, die sich mit derjenigen der Transpersonalen und Integralen Psychologie verblüffend deckt.
Zunächst fiel mir auf, dass die Reihe der Großen Arkana mit der Darstellung von menschlichen Figuren beginnt und mit kosmischen Symbolen endet. Das erinnerte mich an die entwicklungspsychologische Ordnung der Integralen Psychologie, die präpersonale, personale und transpersonale Stadien des Bewusstseins in einem Metamodell aus Entwicklungstheorien vereint. Die Idee – zu jenem Zeitpunkt nicht mehr als eine Vermutung –, dass sich in den Karten ein validierbares Entwicklungsmodell verbarg, war geboren. Es begann eine Zeit intensiver Recherchen und – als ich mit den Beschreibungen der Karten als psychogenetische Felder begann – eine Zeit sehr persönlicher Selbsterkundung. Die wissenschaftliche Arbeit wurde zunehmends verwoben mit einer psychologischen und spirituellen Reise durch die Karten der Großen Arkana. Die objektive (wissenschaftliche) Sicht, so erkannte ich, kann sinnvoll ergänzt werden durch die Perspektive der eigenen Erfahrung und Selbsterkundung.
Eine der Methoden der Integralen Psychologie ist der interdisziplinäre Vergleich, um eine Theorie oder ein Modell über menschliche Entwicklung hinreichend zu validieren. Wenn zum Beispiel Sigmund Freud das Bedürfnis nach Angenommensein und Zuwendung (orale Phase) zeitlich vor das Entstehen des Bedürfnisses des Kindes nach Abgrenzung (anale Phase) platziert, so sollten andere Theorien dem nicht widersprechen, wenn nicht eines der Modelle falsch sein sollte. Überlegungen, ob der Tarot ein Entwicklungsmodell bereitstellt oder nicht, würden sich sofort erübrigen, wenn die Karte IV-Kaiser vor der III-Kaiserin oder an ganz anderer Stelle in der Reihe seinen Platz hätte. Solche Fälle, wie zu sehen sein wird, kommen erstaunlicherweise nicht vor. Da die Karten der Großen Arkana abgegrenzte Entwicklungsbereiche des Menschen repräsentieren, habe ich sie psychogenetische Felder genannt und daraus ein entsprechendes psychologisches Entwicklungsmodell menschlichen Bewusstseins abgeleitet.
In diesem Buch werde ich das entsprechende Belegmaterial vorlegen und ausführlich kommentieren.
Uns wird weiter die Frage beschäftigen, wie ein solches, wenn auch ikonisches, Entwicklungsmodell in der Renaissance entstehen konnte und wie es sich zu den Grundannahmen der Integralen Psychologie verhält.
Dieses Buch gliedert sich in vier Teile:
Die theoretischen Grundlagen, Einführungen in integrale und klassische Entwicklungspsychologie und die Herleitung des Modells der psychogenetischen Felder (pgFelder) sind Thema des Teils I.
Teil II beschreibt ausführlich jede Karte der Großen Arkana und stellt diese in den Zusammenhang des Modells der pgFelder. Ungeduldige Leser mit Vorkenntnissen in Entwicklungspsychologie können Teil I vorerst überspringen und die Lektüre mit Teil II beginnen.
Teil III bindet die Kleinen Arkana und die Hofkarten des Tarot in ein umfassendes philosophisches Erklärungsmodell ein und enthält Deutungsvorschläge zu diesen Karten.
Teil IV widmet sich der Praxis des Tarot. Darin wird das pgFeld-Modell als Screening-Instrument zur persönlichen Selbsterkundung besprochen und im Anschluss neue Legesysteme des Tarot vorgestellt, die hier als projektive Verfahren, inspiriert durch die projektive Psychodiagnostik, behandelt werden. Bevor man Legungen durchführt, bietet es sich an, die Einführungen zu den Kleinen Arkana und den Hofkarten durchzulesen, um diese Karten besser interpretieren zu können.
Im Anhang finden Sie zusammenfassende Kurzübersichten und ein Quellenverzeichnis.
Die Grenzen zwischen Philosophie und Psychologie verschwimmen angesichts der komplexen Thematik.
Ich möchte deshalb anregen, dieses Buch in erster Linie als psychologisch-philosophisches Lesebuch aufzunehmen. Es ist allerdings so konzipiert, dass es sich – nach der Lektüre – auch als Nachschlagewerk und Manual zur Arbeit mit dem Tarot nutzen lässt. Neue, aus psychologischen Modellen hergeleitete Legesysteme, die als projektive Verfahren aufgefasst werden, werden im Anhang vorgestellt.
Meine Darlegungen und das Modell der psychogenetischen Felder, das ich aus den Großen Arkana des Tarot ableite, sind als ein vorläufiger Abriss zu verstehen und die Kommentare zu den einzelnen Karten oder, wie ich sie nenne, psychogenetischen Feldern, erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Der Tarot erlebt derzeit seine Blüte, nie waren die Karten so populär wie heute. Hunderte im Handel erhältlicher verschiedener Sets mit den unterschiedlichsten ästhetischen Motiven, sprechen von seiner Beliebtheit.
Es ist schwer zu sagen, ob dieses Buch das Spektrum der Deutungsmöglichkeiten des Tarot erweitert oder ob, mithilfe dieses alten europäischen Kulturguts, die Integrale Psychologie um eine weitere Perspektive bereichert wird. Möge beides zutreffen.
Ich möchte den Leser zu einem wagemutigen Abenteuer des Geistes einladen und hoffe mit diesem Buch einen inspirierenden Beitrag zur Selbsterkenntnis leisten zu können.
Der Tarot ist das Spielfeld dieses Buches – die Spieler aber sind Sie und das Spiel, das Sie spielen, ist das Ihres Bewusstseins. Viel Vergnügen!