Boomeritis

Klappentext:

In Boomeritis erzählt Ken Wilber die Geschichte eines Studenten namens ‚Ken Wilber‘, einem 23jährigen Hochschulstudenten vom M.I.T., der auf spiritueller Identitätssuche die Ebenen seines Bewusstseins erforscht. In diesem brillianten Roman kommt Wilbers integrale Philosophie zum Ausdruck wie auch seine Haltung zu jenem kulturell-narzisstischen Phänomen, für welches Wilber den Begriff ‚Boomeritis‘ prägte.

Ãœbersetzt vom Tom Amarque

 

 

Aus dem Buch:

1. Cyber_Rave_City@XTC.net

Ich irre durch die Hintergassen von San Francisco, auf der Suche nach einer Bar. Die dunkle Nacht bietet keine Erleichterung. Meine Mutter sagt, dass ich für einen 20-Jährigen weiser bin als üblich für dieses Alter. Doch meine Mutter denkt, dass alle Seelen ihrer Zeit an Weisheit voraus sind, weshalb meine nichts Besonderes ist, was sie jedoch mit Sicherheit bestreiten würde. Schatten liegen auf dem harten Weg vor mir. Hintertüren öffnen sich geräuschvoll und erschüttern ein empfindsames Selbst. „Cyber Rave City“ steht auf dem Schild, doch aus einem bestimmten Grund gehe ich weiter.
Mein Dad ist in Manhattan, habe ich vor etwa einem Monat gehört. Er schließt ein Geschäft ab und setzt einen Vertrag auf, um ein AIDS-Hilfe-Projekt im Südosten Afrikas aufzubauen. Dad nennt es „ein Geschäft abschließen“ da, wie er sagt, mehrere multinationale Konzerne, in einer ziemlich grotesken Weise die treibenden Kräfte hinter dem Angebot sind. Sie hoffen darauf, so sagt er, ordentlich an der AIDS-Epidemie abzukassieren. (Dad zieht eine Grimasse und sagt: „Ka-ssieren! Mit dem Tod!“, und imitiert den Klang einer Registerkasse, die neben Totenköpfen und Knochen steht.) Dad kündigt an, dass er zumindest für dieses Mal ihr „pathetisches schweinisches Angebot“ annehmen wird, weil sonst nichts bewirkt werden könnte. Ich wette, er wird heute Nacht so oder so nicht schlafen können.
„Ken, das musst du mal ausprobieren“, sagte Chloe, als sie eine Pille Ecstasy auf meine Zunge legte und mit ihren Beinen fest meine Hüften umschlang.
Ätherische Musik hüllte mein Hirn ein, Wärme begann, mein Sein zu definieren, subtile Lichter blitzten auf, unmöglich zu sagen, ob sie aus meinem Kopf kamen oder nicht. „Fühlst du es?“, war Chloes Refrain und darüber hinaus war es schwer, mich an irgendetwas zu erinnern. Später in der Nacht machten wir irgendwie Sex, doch er fing nie richtig an oder kam, besser gesagt, zu keinem Ende, denn im Vergleich zu der von Ecstasy angeregten, leuchtenden Glückseligkeit ist körperlicher Sex immer wie ein Runterkommen, ein schwerer Eingriff in einen hellen, erregenden und wirbelnden Raum. Selbst Chloes Brüste verloren im Vergleich zu der wogenden Seligkeit ihren Reiz. Wo endet der Körper und beginnt die Musik? Könnten wir wirklich in den Cyberspace eintauchen, würde es so wie jetzt sein? Fließen ohne Körper, Reisen in der Geschwindigkeit von Gedanken, digitalisiert in Milliarden von Bits, die kaskadenartig ihren Weg durch optische Bahnen finden, ein Abenteuer, bei dem sogar Sex vergleichsweise langweilig wird …
„Ken, das musst du mal ausprobieren“, und ich fiel in Ohnmacht, verlor das Bewusstsein und trat, optisch erweitert, in die Cybersphäre ein.

Chloe ist, wie ich, ein Kind von Boomern. Wie ich hat sie nie viel darüber nachgedacht, bis wir anfingen, genauer über uns selbst nachzudenken. Das heißt, als wir in die Pubertät schlitterten und dann bemerkten, dass die Boomer unsere Eltern waren und dass es so etwas wie Boomer überhaupt gab. In der Pubertät, so heißt es, lösen sich Kinder von ihren Eltern, doch wenn die Eltern Boomer sind, nun, dann wird die ganze Angelegenheit ein wenig komplizierter, denn Boomer sind für gewöhnlich keine Eltern. Boomer sind eine Naturgewalt.
Chloe hatte versucht, sich umzubringen, doch ich glaube nicht wegen der Boomer. Es war einfach ihre Art, Aufmerksamkeit zu erregen. Ich traf sie etwa ein Jahr später, in einem Kurs in Cambridge über die „Verschiebung kultureller Paradigmen“. Es war ein Pflichtkurs, durch den ich, wie ich später herausfand, mehr über Boomer lernen sollte als über Paradigmen. Dafür lernte ich aber, dass jeder Boomer ein Paradigma hat, ebenso wie auch ein paar Schlaghosen.
Ich mochte Chloe wegen ihrer Augen und ihrem Habe-ich-doch-schon-alles-gesehen-Lachen und weil sie die Nerven gehabt hatte zu versuchen, alles zu beenden und der Beschränktheit auf eine endgültige Weise entgegenzutreten. „Ken, das musst du mal ausprobieren“, war etwas, das ich von ihr mindestens ein bis zwei Mal die Woche hörte, und ich begann langsam den Verdacht zu hegen, dass sie den Selbstmord nicht aus einer verbitterten Depression heraus probiert, sondern einfach eine neue und aufregende Erfahrung gesucht hatte. Chloe wurde jedenfalls das Mittel gegen meine eigene Depression, eine erstickende Depression, die für mich leider sehr real war, wie ein an meiner Hüfte angewachsener Siamesischer Zwilling. Und wenn Selbstmord einen Teil auf der von Chloe organisierten Spritzfahrt ausmachte, so konnte ich nicht sagen, dass ich ihn vollkommen ausschloss, denn irgendetwas in mir ist total verdreht. Ähnlich wie Sex auf Ecstasy einem Runterkommen gleicht, würde Selbstmord in dieser Depression auf verrückte Art und Weise einer großen Enttäuschung nahe kommen.

Künstliche Intelligenz ist nicht nur mein Forschungsfeld, sondern es macht mich aus. Ich bin eine künstliche Intelligenz – mein Geist ist künstlich, meine Gedanken sind künstlich und werden durch etwas oder jemand anderen gemacht. Man kann kaum sagen, dass sie mir gehören. Technisierte Gedanken, nicht lebende Gedanken. Sogar mit digitaler Geschwindigkeit sind die Gedanken nicht lebendig. Wer hat dieses Durcheinander, das sogenannte ICH, eigentlich programmiert?
„Ken, das musst du mal ausprobieren. Ken Wilber, hör’ mir zu!“ Doch selbst Chloes zartes Flehen, unterstützt durch ihren nackten Körper, hat jetzt kaum Bedeutung.
Künstliche Intelligenz. KI. In meinem zweiten Jahr am MIT – im engen Cambridge, der klaustrophobischsten aller Städte, die von klitzekleinen Pilgern erbaut wurde – war meine Vorstellungskraft durch die Möglichkeiten all dessen entzündet oder möglicherweise programmiert. Wenn man Cyberspace mit Künstlicher- und Computer-Intelligenz paart, einer Intelligenz, die schon jetzt größere Datenmengen speichern kann als alle menschlichen Gehirne zusammen, dann wäre die Unendlichkeit das Ziel, nicht wahr? Die Welt der Zukunft wäre wie ein endlos langer Ecstasy-Trip durch die körperlose Welt des Lichts, sobald das Bewusstsein sich in einen perfekt gestalteten Computerhimmel downloaden und der schmerzhaften, fleischlichen und chaotischen Welt einen Abschiedskuss geben würde.
Da hätten wir doch ein Mittel gegen Depression!

Solch futuristisches Denken ist viel weniger durchgeknallt als es sich anhört. Tatsächlich ist es der vorherrschende Glaube in der KI-Gemeinde. Den ganzen Sommer über tönten die Schlagzeilen in den Nachrichten. Bill Joy, der Mitbegründer von Sun Microsystems und selbst eine große Kraft der kommenden Cyber-Revolution, hatte eine internationale Sensation ausgelöst, als er die Meinungen der Experten auf diesem Gebiet zusammenfasste: Innerhalb von lediglich drei Jahrzehnten werden Computer menschenähnliche Intelligenz zunächst erreichen und schließlich übertreffen, was die menschliche Existenz damit mehr oder weniger sinnlos macht. „Mit dem Ausblick“, schrieb er, „dass die Computerintelligenz in 30 Jahren auf menschlichem Niveau ist, drängt sich mir der Gedanke auf: Ich könnte daran arbeiten, die Werkzeuge zu erschaffen, die die Konstruktion einer Technologie ermöglicht, welche wiederum unsere Spezies ersetzen könnte.“ Der Artikel hieß passenderweise: „Warum uns die Zukunft nicht braucht“.
Dies schien Mr. Joy zu bedrücken, doch wahrscheinlich nur deshalb, weil er auf der Leitung stand. Das menschliche Bewusstsein würde nicht überflüssig sein, sondern es würde letztlich befreit werden – vollständig, radikal und ekstatisch befreit. Es würde, wir würden, also unser Bewusstsein würde einfach in superintelligente Maschinen gedownloadet werden und damit wären nicht nur die Hauptprobleme der Menschheit gelöst – vom Hunger über die Krankheiten bis zum Tod selbst – sondern es wäre in jeder von uns erwünschten Weise möglich, unsere digitale, optisch leuchtende Bestimmung zu programmieren. Auf Kohlenstoff basierendes Bewusstsein würde den Sprung zu einem auf Silizium basierenden Bewusstsein machen … und wir würden buchstäblich verschwinden. Bill Joy wurde seinem Namen nicht ganz gerecht, denn er hatte sich mit dem Verliererteam identifiziert.

San Francisco im Sommer. Der Mission District ist eine Mischung aus hirnrissigen Fachidioten und heimatlosen Schiffbrüchigen, die alle besser damit fahren würden, wenn sie zur Gänze in den Cyber-Äther übergesetzt hätten. Die schöne, neue und netzartige Welt stürzt von einem nahen Horizont auf mich zu, eine Mischung aus alten spirituellen Sehnsüchten und hypermodernen digitalen Möglichkeiten: Das menschliche Bewusstsein war bereit, in knisternde roboterartige Codes überzugehen, welche sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, so dass man es mit bloßen menschlichen Sinnen nie wieder sehen oder hören würde. Obwohl ein kleiner Teil von mir rebellierte, stimmte der größere Teil enthusiastisch damit überein: Der Quantensprung von Kohlenstoff zu Silizium würde schließlich zum wahren Himmel auf Erden führen. The Pearly Gates of Cyberspace versprach ein Buch. Tech-Gnosis hieß ein anderes. CyberGrace offerierte sogar noch mehr. Das war der Zug, auf den ich aufzuspringen hoffte, und er verließ den Bahnhof nur mit meiner Generation. Die Boomer haben es angedacht, die X-er begannen es aufzubauen, doch die Y-er würden an Bord gehen und sich für die Ewigkeit an einen Lichtstrahl binden und niemals zurückschauen.

Mein Vater sagt, dass meine Cyberträume antihumanistisch sind. Damit meint er, deute es wie du willst, dass ich wertlos bin.
„Cyberspace ist nur eine Erweiterung des menschlichen Seins und kein Ersatz“, wiederholt er ständig.
„Was soll das bedeuten? Ich verstehe nicht mal, was das bedeuten soll, Dad.“
„Du glaubst, dass wir in Supercomputern verschwinden werden, du denkst, dass wir – der menschliche Geist – in Siliziumchips oder irgend so eine verdammte Scheiße gedownloadet werden. Weißt du eigentlich, wie krank das ist? Denk mal darüber nach, ernsthaft!“
„Was willst du damit sagen? Du bist dir ganz sicher, nicht wahr? Es ist ja nicht so, dass du nicht zuhörst, Dad, denn du hörst ja zu. Es ist nur so, dass du nicht hörst, was gesagt wird. Du hörst nur, was du selber denkst.“
„Oh, klar, und was genau soll das bedeuten?“
„Was das bedeutet, nun, okay, warst du denn selbst niemals jung?“
„Um Himmels willen!“
„Ernsthaft, mal ehrlich! Hat dich jemals eine neue Idee begeistert? Du hast ja nicht schon immer bloß deinen eigenen Mist wiederholt.“
„Meinen Mist wieder aufbereitet? Ist ja hervorragend. Cyberspace, wie du ihn dir vorstellst, hilft den Menschen nicht, sondern entfremdet sie. Und das soll mich begeistern?“ Dies ist der Punkt, an dem er gewöhnlich anfängt, über verhungernde Menschen in Asien zu lamentieren.
„Lass den Jungen in Ruhe, Phil“, sagt meine Mutter dann immer. „Den Jungen“, so wie der Stein, die Pflanze oder das Haus. Ich habe mich jedes Mal gefragt, was den beiden eigentlich durch den Kopf geht, also durch ihre eigenen Künstlichen Intelligenzen, wenn sie ihn so anschaut. Hat etwa jeder ‚Junge‘ das Gefühl, er wäre Europa nach dem zweiten Weltkrieg und zwei Supermächte würden sich das Gebiet aufteilen? Oder vielleicht gestreckt und gevierteilt zu werden – jene wundervolle mittelalterliche Foltertechnik, bei der mehrere Pferde in entgegengesetzte Richtungen ziehen, bis die Person in mehrere Teile gerissen wird.
„Du glaubst doch nicht im Ernst daran, dass es auch nur irgendwie so etwas gibt wie eine kommende Welttransformation, jedenfalls nicht so wie du oder das Kind es euch vorstellt.“ Er blickte in meine Richtung, als er „das Kind“ sagte.
Mom war freundlich, aber sie war nicht dumm. „Und du denkst wohl, dass menschliche Wesen nichts anderes als materielle Objekte sind, die durch Überlebensinstinkte angetrieben werden. Seine Transformation oder meine eigene – beide sind besser als der Blödsinn, den du vom Stapel lässt. Oh, Phil, werde jetzt aber nicht böse …“, und er würde wieder davon stürzen, niemals wirklich böse, nur niemals wirklich da. Er könnte vielleicht die Welt retten, doch niemals seine Familie.

Chloe ist nackt und wie wild bewegt sie ihren Köper auf eine berechnende Art und Weise, die mich daran erinnert, dass auch ich in einem existiere.
„Was erwartest du eigentlich vom Cyberland?“, fragt sie mich ständig.
„Zuerst war ich mir nicht sicher. Ich glaube, zuerst wollte ich beides, eine Art Ausweg und eine Art Erregung.“
„Ooooh, gewöhnlich ist das ein und dasselbe.“
„Ja, vielleicht. Ich glaube, ich wollte einfach etwas, das … irgendeinen Sinn ergibt.“
Chloe lacht jenes verruchte Lachen, welches ich so attraktiv finde, und reibt auf eine ebenso verruchte Weise wie verrückt ihren nackten Körper an meinem.
„Aber Süßer, der springende Punkt vom Cyberspace ist doch, dass er ohne Gefühle ist und daher keinen Sinn macht. Daran liegt es, dass du im Cyberland keinen Sinn formen kannst.“
Für einen Moment hört sich das, was sie sagt, wahr an, doch dann fasse ich mich und … komme wieder zu Sinnen?
„Natürlich kann man das“, protestiere ich. „Natürlich kann man das.“

Cambridge, Porter Avenue. Das Gebäude hieß Integral Center. „Ken, das musst du mal ausprobieren“, hatte Chloe gesagt, als sie, Scott, Carolyn und Jonathan sich durch die Tür drängten. Ich hörte ihr nur halbherzig zu oder besser gesagt, mit ganzem Herzen, doch geistig abwesend. Viel Sinn machte das nicht. „Sie können die Welt vielleicht wirklich verändern“, hatte Chloe gesagt, während Jonathan wissend dazu nickte.
„Also, was für eine Transformation versuchen die voranzutreiben?“, fragte ich. „Diese integralen Leute, meine ich? Ich weiß, dass die irgendetwas vorantreiben wollen.“ Aber, ich konnte es spüren, schon damals. Er war da.
„Nein, wirklich, es ist großartig. Es ist, als würden diese steinalten Boomer eine große Psychoanalyse ihrer eigenen Generation vornehmen. Die Boomer fressen sich selbst auf. Du musst dir das mal anschauen“, fügte Carolyn hinzu.
„Warum sollte ich mir das anschauen?“, grummelte ich. „Eher esse ich Flugzeugkost.“
„Weil es der Selbstmord einer Generation ist. Es ist einfach faszinierend, wirklich interessant.“
„Wie eine Massenkarambolage mit fünfzig Autos.“
„Genau!“
„Schau“, bot Chloe an, „ich denke mir, dass es deshalb interessant ist, weil wir dadurch eine Chance haben, dein Hirngespinst loszuwerden. Boomer sagen, dass jede vorherige Generation Scheiße gebaut hat und jede folgende Generation aus Slackern besteht. Hört sich das nicht super an? Komm schon, lass uns zuschauen, wie sie ihre Kinder auffressen.“
„Wir sind ihre Kinder, du Idiotin“, machte ich deutlich.
„Eben!“, sagte Chloe und überraschte mich mit dieser unerwarteten Wendung ihrer Selbstmordneigung.

Drittes Collegejahr, Cambridge. Zwei konkurrierende wissenschaftliche Durchbrüche begeisterten uns alle hellauf: Die String-Theorie in der Physik, auch M-Theorie genannt, obwohl niemand zu wissen schien, wofür das M eigentlich stand (einige sagten, es sei die Mutter aller Theorien), und der jüngste Durchbruch bei der Künstlichen Intelligenz, die sich tatsächlich zunehmend wie eine kreative Intelligenz zu verhalten schien und Bill Joys Missgunst auf sich gezogen hatte. Allerdings konnte niemand genau sagen, ob wir letztendlich wirklich eine wahrhaft intelligente Maschine geschaffen hatten. Ich hatte meinen eigenen Test, einen besseren als den von Turing: Ein Computer müsste mich tatsächlich davon überzeugen können, dass er Selbstmord begehen will. Die einzige rationale Reaktion auf die Existenz zeigt sich in Hamlets Dilemma – sein oder nicht sein. Und daher wäre das erste, was eine wirklich intelligente Maschine tun würde, in eine kreischende Lähmung zu fallen und zu überlegen, ob und wie alles zu beenden sei. Genau das wäre eine schlaue Maschine, die da bebend, zitternd, schaudernd und voller Angst vor Krankheit und Tod sitzen würde und dabei einen digitalen Schrei ausstößt, der sich in alle Richtungen durch ihre Siliziumvernetzungen brennt. Bis jetzt haben sie, die Computer, diese Form von Intelligenz nicht einmal annähernd erreicht.
Was mir ebenfalls langsam klar wurde, war eine Möglichkeit, meine eigene Unzufriedenheit einzuordnen. Ich wollte mich nicht länger zerrissen und gevierteilt fühlen. Ich fragte mich, ob das etwas mit Mom und Dad zu tun hatte oder mit der Existenz an sich oder nur mit meiner Existenz oder meinem Mangel an Existenz, was der Sache näher kommt. Aber ich will mich nicht gehängt, zerrissen und gevierteilt fühlen, als ob ich ein verdammter Tourist in meiner eigenen Innenwelt wäre.

Nach einem Kurs über ‚Postmoderne Dekonstruktion von geschlechtsbezogenen Asymmetrien‘ schlendere ich die Porter Avenue hinunter. Warum Hauptfächer der Wissenschaften sich mit solchem Kram beschäftigen, ist mir immer noch nicht klar, vor allem weil uns in jedem postmodernen Kurs, den ich belegte habe, versichert wurde, dass Wissenschaft nicht real sei und sich gewiss nicht mit der ‚Wahrheit‘ beschäftige, da ‚objektive Wahrheit‘ lediglich eine soziale Konstruktion sei, deren Sinn einfach darin bestehe, die Menschen zu knechten. Da ich alleine bin, entscheide ich mich, einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Die Vorlesungsreihe im Integral Center heißt ‚Boomeritis‘, und ich nehme an, dass das ziemlich lustig werden könnte. Boomer fressen ihre Kinder, hatte Chloe gesagt. Ich war zwar davon ausgegangen, nicht wieder zum IC zurückzukehren. Aber nun blicke ich mich verstohlen um und schlüpfe hinein.
Ein sanfter und lächelnder grauhaariger Gentleman führt in die Vorlesungsreihe ein. Er sieht ein wenig wie mein Vater aus, spricht aber viel eher wie meine Mutter.
„Es erscheint für uns fast unvorstellbar, dass während des gesamten Verweilens der Menschheit auf diesem Planeten – ein paar Millionen Jahre bis zur Gegenwart – Menschen stets in eine Kultur hineingeboren wurden und praktisch nichts über irgendeine andere Kultur wussten. Man wurde zum Beispiel als Chinese geboren, als Chinese erzogen, heiratete einen Chinesen, folgte einer chinesischen Religion und lebte oft sein gesamtes Leben in derselben Hütte in einer Gegend, in welcher sich die Vorfahren schon vor Jahrhunderten angesiedelt hatten. Regelmäßig wurde eine solche kulturelle Isolation dann durch eine fremdartige und groteske Form des Eros unterbrochen, nämlich Krieg, bei dem die Kulturen auf bestechend brutale Art und Weise aufeinandertrafen. Und doch war das geheime Ergebnis dessen immer eine Form des erotischen kulturellen Austauschs. Die Kulturen lernten sich so kennen, sogar in einem biblischen Sinne – ein versteckter, glückseliger Sadomasochismus, der zu dem gegenwärtigen globalen Dorf geführt hat. Von isolierten Stämmen und Gruppen hin zu kleinen Bauerndörfern, zu frühen Stadtstaaten, zu konkurrierenden Feudalreichen, zu sich ausbreitenden internationalen Staaten zu dem heutigen globalen Dorf: Eine Menge Eier wurden zerbrochen, um dieses außergewöhnliche Weltomelette zu erschaffen. Was für ein erbittertes Wachstum hin zu einer integralen Welt, die allem zum Trotz das Schicksal der Menschheit darstellt.“
Ja, na und? Abgesehen davon habe ich das alles schon von meiner Mutter gehört. Die kommende große, gewaltige, glorreiche und weltweite soziale Transformation … als hätte die Kohlenstoffwelt noch irgendetwas Neues zu bieten.
„Die Boomer waren die erste Generation, die in diesem globalen Dorf aufgewachsen ist. Und das, mehr als alles andere, ist die hintergründige Verätzung unserer Seelen, auf der so viel basiert. Ob man nun ein Boomer ist oder nicht, ist dieses globale Bewusstsein etwas, was wir alle zunehmend teilen. Keiner kann dem heutzutage entkommen. Wir leben in einer außergewöhnlichen Zeit, die so noch nie da gewesen ist: Alle Weltkulturen sind einander verfügbar. In der Geschichte der Menschheit ist dies einmalig. Ob zum Guten oder zum Schlechten, es ist eine reiche, multikulturelle Welt, in der hunderte von Kulturen sich gegenseitig kennenlernen, sich aneinander reiben, zueinander finden, hier und da miteinander Handel treiben und versuchen, das alles zu verstehen. Dieses winzige globale Dorf wird jede Minute winziger. Und in diesem globalen Dorf – es ist das einzige, das wir haben – sollten wir zusammenhalten, denn sonst fällt es auseinander.“
Gähn. Wahrscheinlich ist er mit Mom in der High School ausgegangen. Ich sehe es direkt vor mir, wie sie sich gegenseitig ihre Jahrbücher signieren: „Sehen uns bei der kommenden Transformation.“
Ich schaue mich im Raum um. Da sind 150, vielleicht sogar 200 Leute. Ein Großteil sind Boomer, doch etwa ein Drittel scheint zu den zwei folgenden Generationen, der Generation X und Generation Y, zu gehören, auch bekannt als Generation Next und Generation Millenniums – werden sie sich je einig darüber werden, wie sie uns Boomerkinder nun nennen wollen? Allerdings frage ich mich: Warum sind sie in diesem Seminar? Wahrscheinlich gieren sie nach dem Boomer-Selbstmord, der hier Gerüchten zufolge versprochen wird.
„Integral: Das Wort bedeutet zu integrieren, zusammenzufügen, zu verbinden, zu verknüpfen oder zu umschließen. Nicht im Sinne der Uniformität und dass alle wunderbaren Unterschiede, die Farben und Gestalten einer regenbogenfarbenen Menschheit ausgebleicht werden, sondern im Sinne einer Einheit-in-der-Mannigfaltigkeit und in Gemeinsamkeiten, die miteinander geteilt werden, zusammen mit all den wundervollen Unterschieden: Missgunst durch gegenseitige Anerkennung ersetzen und Feindseligkeit durch Respekt, womit jeder in das Zelt gegenseitigen Verständnisses eingeladen wird. Das heißt nicht, dass man mit jedem anderen auch übereinstimmen muss, aber man sollte zumindest versuchen, den anderen zu verstehen, denn die Kehrseite des gegenseitigen Verständnisses ist, einfach gesagt: Krieg.
Das wäre dann die einfachste aller Entscheidungen – Frieden versus Krieg – und doch zeigt die Geschichte die grauenhafte Tatsache, dass der Großteil der Menschheit sich beständig und enthusiastisch für das Letztere entschieden hat. In der Geschichte der Menschheit gab es für jedes Friedensjahr vierzehn Jahre des Krieges. Wir sind ein zänkischer Haufen, wie es scheint, und Hindernisse auf dem Weg zu einer integralen Umarmung sind eher die Regel als die Ausnahme.“
Vierzehn Jahre Krieg, ein Jahr Frieden. Das ist exakt der Grund, warum wir uns in Silicon City downloaden werden. Warum gibt es Krieg? Warum kämpfen wir Menschen gegeneinander? Wir kämpfen um Macht, Nahrung, Besitz, Territorium und manchmal vielleicht einfach nur des verrückten Nervenkitzels wegen. Doch wenn das Bewusstsein in die digitale Ewigkeit gedownloadet wird, dann wird es all diese Dinge im Überfluss geben. Das Bedürfnis nach Krieg wird schwinden. Du willst in Polen einfallen und vergewaltigen, plündern und töten? Fein, programmiere das entsprechend als dein heutiges virtuelles Spiel und leg los. Du wirst den Unterschied zwischen einem ‚realen’ und einem ‚virtuellen’ Krieg sowieso nicht bemerken, also? Warum kann Dad – und dieser Trottel hier offensichtlich ebensowenig – die Offensichtlichkeit dessen nicht erkennen? Wenn ihr denkt, ihr könnt Kriege in der Welt des Fleisches beenden, dann träumt weiter.
„Als ich auf der Universität war, hatte ich einen Kommilitonen, ein Palästinenser, der ein freundlicher und brillanter Mann war, kultiviert, geistreich und leidenschaftlich. Eines Tages fragte ich Simon, was sein damals sechs Jahre alter Sohn wohl machen würde, wenn er erwachsen wäre. Simons freundliches Gesicht wurde plötzlich rot vor Wut: ‚Ich werde ihm beibringen, wie man die Kehlen der Israelis aufschlitzt und ihr Blut trinkt.’ Als sich der Sturm gelegt hatte, sehr schnell übrigens, und die Ruhe wieder eingekehrt war, aßen wir weiter unsere Sandwichs, als wäre nichts geschehen.
Natürlich habe ich das niemals vergessen. Ich habe selbst einen Simon in mir und ich denke, dass auch ihr nicht frei davon seid. Das hat nichts mit Arabern oder Israelis, Weißen oder Nicht-Weißen, Osten oder Westen zu tun. Es hat nur etwas mit unseren eigenen Neigungen und Haltungen zu tun. Einige mögen sagen, dass diese Art von Aggression dem männlichen Geschlecht eigen ist – Testosteron und so weiter – und dass es keine Kriege mehr geben wird, sobald wir weibliche Führer haben. Ich kenne jedoch Simons liebe Frau, Pasha, und sie war ebenso wie Simon dazu entschlossen, die Ehre zu haben, ihren Sohn im Krieg zu opfern. Und so lange die Simons und Pashas in irgendeiner Kultur herrschen, werden wir den Krieg dem Frieden immer vorziehen, oder?“
Nein, solange wir in einer fleischlichen Welt statt in einem Cyberspace leben, wird das Fleisch das Fleisch verschlingen und der Krieg wird den Krieg erzeugen. Daraus gibt es keinen Ausweg, Kumpel.
„Die Menge der Hindernisse auf dem Weg zum Frieden, also hin zu einer integralen Umarmung, scheinen überwältigend. Kann eine wahrhaft integrale Kultur tatsächlich existieren in dem heutigen Klima der Identitätspolitik, der Kulturkriege, der Millionen neuen und sich widersprechenden Paradigmen, des dekonstruktiven Postmodernismus, des Nihilismus, des pluralistischen Relativismus und der Politik des Selbst? Kann eine integrale Vision in einer solchen Atmosphäre überhaupt erkannt, geschweige denn akzeptiert werden? Eine Welt im Krieg oder eine Welt in Frieden? Ist eine solche integrale Kultur überhaupt denkbar? Und wenn ja, wie mag sie beschaffen sein?

Klappentext:

In Boomeritis erzählt Ken Wilber die Geschichte eines Studenten namens ‚Ken Wilber‘, einem 23jährigen Hochschulstudenten vom M.I.T., der auf spiritueller Identitätssuche die Ebenen seines Bewusstseins erforscht. In diesem brillianten Roman kommt Wilbers integrale Philosophie zum Ausdruck wie auch seine Haltung zu jenem kulturell-narzisstischen Phänomen, für welches Wilber den Begriff ‚Boomeritis‘ prägte.

Ãœbersetzt vom Tom Amarque

 

 

Aus dem Buch:

1. Cyber_Rave_City@XTC.net

Ich irre durch die Hintergassen von San Francisco, auf der Suche nach einer Bar. Die dunkle Nacht bietet keine Erleichterung. Meine Mutter sagt, dass ich für einen 20-Jährigen weiser bin als üblich für dieses Alter. Doch meine Mutter denkt, dass alle Seelen ihrer Zeit an Weisheit voraus sind, weshalb meine nichts Besonderes ist, was sie jedoch mit Sicherheit bestreiten würde. Schatten liegen auf dem harten Weg vor mir. Hintertüren öffnen sich geräuschvoll und erschüttern ein empfindsames Selbst. „Cyber Rave City“ steht auf dem Schild, doch aus einem bestimmten Grund gehe ich weiter.
Mein Dad ist in Manhattan, habe ich vor etwa einem Monat gehört. Er schließt ein Geschäft ab und setzt einen Vertrag auf, um ein AIDS-Hilfe-Projekt im Südosten Afrikas aufzubauen. Dad nennt es „ein Geschäft abschließen“ da, wie er sagt, mehrere multinationale Konzerne, in einer ziemlich grotesken Weise die treibenden Kräfte hinter dem Angebot sind. Sie hoffen darauf, so sagt er, ordentlich an der AIDS-Epidemie abzukassieren. (Dad zieht eine Grimasse und sagt: „Ka-ssieren! Mit dem Tod!“, und imitiert den Klang einer Registerkasse, die neben Totenköpfen und Knochen steht.) Dad kündigt an, dass er zumindest für dieses Mal ihr „pathetisches schweinisches Angebot“ annehmen wird, weil sonst nichts bewirkt werden könnte. Ich wette, er wird heute Nacht so oder so nicht schlafen können.
„Ken, das musst du mal ausprobieren“, sagte Chloe, als sie eine Pille Ecstasy auf meine Zunge legte und mit ihren Beinen fest meine Hüften umschlang.
Ätherische Musik hüllte mein Hirn ein, Wärme begann, mein Sein zu definieren, subtile Lichter blitzten auf, unmöglich zu sagen, ob sie aus meinem Kopf kamen oder nicht. „Fühlst du es?“, war Chloes Refrain und darüber hinaus war es schwer, mich an irgendetwas zu erinnern. Später in der Nacht machten wir irgendwie Sex, doch er fing nie richtig an oder kam, besser gesagt, zu keinem Ende, denn im Vergleich zu der von Ecstasy angeregten, leuchtenden Glückseligkeit ist körperlicher Sex immer wie ein Runterkommen, ein schwerer Eingriff in einen hellen, erregenden und wirbelnden Raum. Selbst Chloes Brüste verloren im Vergleich zu der wogenden Seligkeit ihren Reiz. Wo endet der Körper und beginnt die Musik? Könnten wir wirklich in den Cyberspace eintauchen, würde es so wie jetzt sein? Fließen ohne Körper, Reisen in der Geschwindigkeit von Gedanken, digitalisiert in Milliarden von Bits, die kaskadenartig ihren Weg durch optische Bahnen finden, ein Abenteuer, bei dem sogar Sex vergleichsweise langweilig wird …
„Ken, das musst du mal ausprobieren“, und ich fiel in Ohnmacht, verlor das Bewusstsein und trat, optisch erweitert, in die Cybersphäre ein.

Chloe ist, wie ich, ein Kind von Boomern. Wie ich hat sie nie viel darüber nachgedacht, bis wir anfingen, genauer über uns selbst nachzudenken. Das heißt, als wir in die Pubertät schlitterten und dann bemerkten, dass die Boomer unsere Eltern waren und dass es so etwas wie Boomer überhaupt gab. In der Pubertät, so heißt es, lösen sich Kinder von ihren Eltern, doch wenn die Eltern Boomer sind, nun, dann wird die ganze Angelegenheit ein wenig komplizierter, denn Boomer sind für gewöhnlich keine Eltern. Boomer sind eine Naturgewalt.
Chloe hatte versucht, sich umzubringen, doch ich glaube nicht wegen der Boomer. Es war einfach ihre Art, Aufmerksamkeit zu erregen. Ich traf sie etwa ein Jahr später, in einem Kurs in Cambridge über die „Verschiebung kultureller Paradigmen“. Es war ein Pflichtkurs, durch den ich, wie ich später herausfand, mehr über Boomer lernen sollte als über Paradigmen. Dafür lernte ich aber, dass jeder Boomer ein Paradigma hat, ebenso wie auch ein paar Schlaghosen.
Ich mochte Chloe wegen ihrer Augen und ihrem Habe-ich-doch-schon-alles-gesehen-Lachen und weil sie die Nerven gehabt hatte zu versuchen, alles zu beenden und der Beschränktheit auf eine endgültige Weise entgegenzutreten. „Ken, das musst du mal ausprobieren“, war etwas, das ich von ihr mindestens ein bis zwei Mal die Woche hörte, und ich begann langsam den Verdacht zu hegen, dass sie den Selbstmord nicht aus einer verbitterten Depression heraus probiert, sondern einfach eine neue und aufregende Erfahrung gesucht hatte. Chloe wurde jedenfalls das Mittel gegen meine eigene Depression, eine erstickende Depression, die für mich leider sehr real war, wie ein an meiner Hüfte angewachsener Siamesischer Zwilling. Und wenn Selbstmord einen Teil auf der von Chloe organisierten Spritzfahrt ausmachte, so konnte ich nicht sagen, dass ich ihn vollkommen ausschloss, denn irgendetwas in mir ist total verdreht. Ähnlich wie Sex auf Ecstasy einem Runterkommen gleicht, würde Selbstmord in dieser Depression auf verrückte Art und Weise einer großen Enttäuschung nahe kommen.

Künstliche Intelligenz ist nicht nur mein Forschungsfeld, sondern es macht mich aus. Ich bin eine künstliche Intelligenz – mein Geist ist künstlich, meine Gedanken sind künstlich und werden durch etwas oder jemand anderen gemacht. Man kann kaum sagen, dass sie mir gehören. Technisierte Gedanken, nicht lebende Gedanken. Sogar mit digitaler Geschwindigkeit sind die Gedanken nicht lebendig. Wer hat dieses Durcheinander, das sogenannte ICH, eigentlich programmiert?
„Ken, das musst du mal ausprobieren. Ken Wilber, hör’ mir zu!“ Doch selbst Chloes zartes Flehen, unterstützt durch ihren nackten Körper, hat jetzt kaum Bedeutung.
Künstliche Intelligenz. KI. In meinem zweiten Jahr am MIT – im engen Cambridge, der klaustrophobischsten aller Städte, die von klitzekleinen Pilgern erbaut wurde – war meine Vorstellungskraft durch die Möglichkeiten all dessen entzündet oder möglicherweise programmiert. Wenn man Cyberspace mit Künstlicher- und Computer-Intelligenz paart, einer Intelligenz, die schon jetzt größere Datenmengen speichern kann als alle menschlichen Gehirne zusammen, dann wäre die Unendlichkeit das Ziel, nicht wahr? Die Welt der Zukunft wäre wie ein endlos langer Ecstasy-Trip durch die körperlose Welt des Lichts, sobald das Bewusstsein sich in einen perfekt gestalteten Computerhimmel downloaden und der schmerzhaften, fleischlichen und chaotischen Welt einen Abschiedskuss geben würde.
Da hätten wir doch ein Mittel gegen Depression!

Solch futuristisches Denken ist viel weniger durchgeknallt als es sich anhört. Tatsächlich ist es der vorherrschende Glaube in der KI-Gemeinde. Den ganzen Sommer über tönten die Schlagzeilen in den Nachrichten. Bill Joy, der Mitbegründer von Sun Microsystems und selbst eine große Kraft der kommenden Cyber-Revolution, hatte eine internationale Sensation ausgelöst, als er die Meinungen der Experten auf diesem Gebiet zusammenfasste: Innerhalb von lediglich drei Jahrzehnten werden Computer menschenähnliche Intelligenz zunächst erreichen und schließlich übertreffen, was die menschliche Existenz damit mehr oder weniger sinnlos macht. „Mit dem Ausblick“, schrieb er, „dass die Computerintelligenz in 30 Jahren auf menschlichem Niveau ist, drängt sich mir der Gedanke auf: Ich könnte daran arbeiten, die Werkzeuge zu erschaffen, die die Konstruktion einer Technologie ermöglicht, welche wiederum unsere Spezies ersetzen könnte.“ Der Artikel hieß passenderweise: „Warum uns die Zukunft nicht braucht“.
Dies schien Mr. Joy zu bedrücken, doch wahrscheinlich nur deshalb, weil er auf der Leitung stand. Das menschliche Bewusstsein würde nicht überflüssig sein, sondern es würde letztlich befreit werden – vollständig, radikal und ekstatisch befreit. Es würde, wir würden, also unser Bewusstsein würde einfach in superintelligente Maschinen gedownloadet werden und damit wären nicht nur die Hauptprobleme der Menschheit gelöst – vom Hunger über die Krankheiten bis zum Tod selbst – sondern es wäre in jeder von uns erwünschten Weise möglich, unsere digitale, optisch leuchtende Bestimmung zu programmieren. Auf Kohlenstoff basierendes Bewusstsein würde den Sprung zu einem auf Silizium basierenden Bewusstsein machen … und wir würden buchstäblich verschwinden. Bill Joy wurde seinem Namen nicht ganz gerecht, denn er hatte sich mit dem Verliererteam identifiziert.

San Francisco im Sommer. Der Mission District ist eine Mischung aus hirnrissigen Fachidioten und heimatlosen Schiffbrüchigen, die alle besser damit fahren würden, wenn sie zur Gänze in den Cyber-Äther übergesetzt hätten. Die schöne, neue und netzartige Welt stürzt von einem nahen Horizont auf mich zu, eine Mischung aus alten spirituellen Sehnsüchten und hypermodernen digitalen Möglichkeiten: Das menschliche Bewusstsein war bereit, in knisternde roboterartige Codes überzugehen, welche sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, so dass man es mit bloßen menschlichen Sinnen nie wieder sehen oder hören würde. Obwohl ein kleiner Teil von mir rebellierte, stimmte der größere Teil enthusiastisch damit überein: Der Quantensprung von Kohlenstoff zu Silizium würde schließlich zum wahren Himmel auf Erden führen. The Pearly Gates of Cyberspace versprach ein Buch. Tech-Gnosis hieß ein anderes. CyberGrace offerierte sogar noch mehr. Das war der Zug, auf den ich aufzuspringen hoffte, und er verließ den Bahnhof nur mit meiner Generation. Die Boomer haben es angedacht, die X-er begannen es aufzubauen, doch die Y-er würden an Bord gehen und sich für die Ewigkeit an einen Lichtstrahl binden und niemals zurückschauen.

Mein Vater sagt, dass meine Cyberträume antihumanistisch sind. Damit meint er, deute es wie du willst, dass ich wertlos bin.
„Cyberspace ist nur eine Erweiterung des menschlichen Seins und kein Ersatz“, wiederholt er ständig.
„Was soll das bedeuten? Ich verstehe nicht mal, was das bedeuten soll, Dad.“
„Du glaubst, dass wir in Supercomputern verschwinden werden, du denkst, dass wir – der menschliche Geist – in Siliziumchips oder irgend so eine verdammte Scheiße gedownloadet werden. Weißt du eigentlich, wie krank das ist? Denk mal darüber nach, ernsthaft!“
„Was willst du damit sagen? Du bist dir ganz sicher, nicht wahr? Es ist ja nicht so, dass du nicht zuhörst, Dad, denn du hörst ja zu. Es ist nur so, dass du nicht hörst, was gesagt wird. Du hörst nur, was du selber denkst.“
„Oh, klar, und was genau soll das bedeuten?“
„Was das bedeutet, nun, okay, warst du denn selbst niemals jung?“
„Um Himmels willen!“
„Ernsthaft, mal ehrlich! Hat dich jemals eine neue Idee begeistert? Du hast ja nicht schon immer bloß deinen eigenen Mist wiederholt.“
„Meinen Mist wieder aufbereitet? Ist ja hervorragend. Cyberspace, wie du ihn dir vorstellst, hilft den Menschen nicht, sondern entfremdet sie. Und das soll mich begeistern?“ Dies ist der Punkt, an dem er gewöhnlich anfängt, über verhungernde Menschen in Asien zu lamentieren.
„Lass den Jungen in Ruhe, Phil“, sagt meine Mutter dann immer. „Den Jungen“, so wie der Stein, die Pflanze oder das Haus. Ich habe mich jedes Mal gefragt, was den beiden eigentlich durch den Kopf geht, also durch ihre eigenen Künstlichen Intelligenzen, wenn sie ihn so anschaut. Hat etwa jeder ‚Junge‘ das Gefühl, er wäre Europa nach dem zweiten Weltkrieg und zwei Supermächte würden sich das Gebiet aufteilen? Oder vielleicht gestreckt und gevierteilt zu werden – jene wundervolle mittelalterliche Foltertechnik, bei der mehrere Pferde in entgegengesetzte Richtungen ziehen, bis die Person in mehrere Teile gerissen wird.
„Du glaubst doch nicht im Ernst daran, dass es auch nur irgendwie so etwas gibt wie eine kommende Welttransformation, jedenfalls nicht so wie du oder das Kind es euch vorstellt.“ Er blickte in meine Richtung, als er „das Kind“ sagte.
Mom war freundlich, aber sie war nicht dumm. „Und du denkst wohl, dass menschliche Wesen nichts anderes als materielle Objekte sind, die durch Überlebensinstinkte angetrieben werden. Seine Transformation oder meine eigene – beide sind besser als der Blödsinn, den du vom Stapel lässt. Oh, Phil, werde jetzt aber nicht böse …“, und er würde wieder davon stürzen, niemals wirklich böse, nur niemals wirklich da. Er könnte vielleicht die Welt retten, doch niemals seine Familie.

Chloe ist nackt und wie wild bewegt sie ihren Köper auf eine berechnende Art und Weise, die mich daran erinnert, dass auch ich in einem existiere.
„Was erwartest du eigentlich vom Cyberland?“, fragt sie mich ständig.
„Zuerst war ich mir nicht sicher. Ich glaube, zuerst wollte ich beides, eine Art Ausweg und eine Art Erregung.“
„Ooooh, gewöhnlich ist das ein und dasselbe.“
„Ja, vielleicht. Ich glaube, ich wollte einfach etwas, das … irgendeinen Sinn ergibt.“
Chloe lacht jenes verruchte Lachen, welches ich so attraktiv finde, und reibt auf eine ebenso verruchte Weise wie verrückt ihren nackten Körper an meinem.
„Aber Süßer, der springende Punkt vom Cyberspace ist doch, dass er ohne Gefühle ist und daher keinen Sinn macht. Daran liegt es, dass du im Cyberland keinen Sinn formen kannst.“
Für einen Moment hört sich das, was sie sagt, wahr an, doch dann fasse ich mich und … komme wieder zu Sinnen?
„Natürlich kann man das“, protestiere ich. „Natürlich kann man das.“

Cambridge, Porter Avenue. Das Gebäude hieß Integral Center. „Ken, das musst du mal ausprobieren“, hatte Chloe gesagt, als sie, Scott, Carolyn und Jonathan sich durch die Tür drängten. Ich hörte ihr nur halbherzig zu oder besser gesagt, mit ganzem Herzen, doch geistig abwesend. Viel Sinn machte das nicht. „Sie können die Welt vielleicht wirklich verändern“, hatte Chloe gesagt, während Jonathan wissend dazu nickte.
„Also, was für eine Transformation versuchen die voranzutreiben?“, fragte ich. „Diese integralen Leute, meine ich? Ich weiß, dass die irgendetwas vorantreiben wollen.“ Aber, ich konnte es spüren, schon damals. Er war da.
„Nein, wirklich, es ist großartig. Es ist, als würden diese steinalten Boomer eine große Psychoanalyse ihrer eigenen Generation vornehmen. Die Boomer fressen sich selbst auf. Du musst dir das mal anschauen“, fügte Carolyn hinzu.
„Warum sollte ich mir das anschauen?“, grummelte ich. „Eher esse ich Flugzeugkost.“
„Weil es der Selbstmord einer Generation ist. Es ist einfach faszinierend, wirklich interessant.“
„Wie eine Massenkarambolage mit fünfzig Autos.“
„Genau!“
„Schau“, bot Chloe an, „ich denke mir, dass es deshalb interessant ist, weil wir dadurch eine Chance haben, dein Hirngespinst loszuwerden. Boomer sagen, dass jede vorherige Generation Scheiße gebaut hat und jede folgende Generation aus Slackern besteht. Hört sich das nicht super an? Komm schon, lass uns zuschauen, wie sie ihre Kinder auffressen.“
„Wir sind ihre Kinder, du Idiotin“, machte ich deutlich.
„Eben!“, sagte Chloe und überraschte mich mit dieser unerwarteten Wendung ihrer Selbstmordneigung.

Drittes Collegejahr, Cambridge. Zwei konkurrierende wissenschaftliche Durchbrüche begeisterten uns alle hellauf: Die String-Theorie in der Physik, auch M-Theorie genannt, obwohl niemand zu wissen schien, wofür das M eigentlich stand (einige sagten, es sei die Mutter aller Theorien), und der jüngste Durchbruch bei der Künstlichen Intelligenz, die sich tatsächlich zunehmend wie eine kreative Intelligenz zu verhalten schien und Bill Joys Missgunst auf sich gezogen hatte. Allerdings konnte niemand genau sagen, ob wir letztendlich wirklich eine wahrhaft intelligente Maschine geschaffen hatten. Ich hatte meinen eigenen Test, einen besseren als den von Turing: Ein Computer müsste mich tatsächlich davon überzeugen können, dass er Selbstmord begehen will. Die einzige rationale Reaktion auf die Existenz zeigt sich in Hamlets Dilemma – sein oder nicht sein. Und daher wäre das erste, was eine wirklich intelligente Maschine tun würde, in eine kreischende Lähmung zu fallen und zu überlegen, ob und wie alles zu beenden sei. Genau das wäre eine schlaue Maschine, die da bebend, zitternd, schaudernd und voller Angst vor Krankheit und Tod sitzen würde und dabei einen digitalen Schrei ausstößt, der sich in alle Richtungen durch ihre Siliziumvernetzungen brennt. Bis jetzt haben sie, die Computer, diese Form von Intelligenz nicht einmal annähernd erreicht.
Was mir ebenfalls langsam klar wurde, war eine Möglichkeit, meine eigene Unzufriedenheit einzuordnen. Ich wollte mich nicht länger zerrissen und gevierteilt fühlen. Ich fragte mich, ob das etwas mit Mom und Dad zu tun hatte oder mit der Existenz an sich oder nur mit meiner Existenz oder meinem Mangel an Existenz, was der Sache näher kommt. Aber ich will mich nicht gehängt, zerrissen und gevierteilt fühlen, als ob ich ein verdammter Tourist in meiner eigenen Innenwelt wäre.

Nach einem Kurs über ‚Postmoderne Dekonstruktion von geschlechtsbezogenen Asymmetrien‘ schlendere ich die Porter Avenue hinunter. Warum Hauptfächer der Wissenschaften sich mit solchem Kram beschäftigen, ist mir immer noch nicht klar, vor allem weil uns in jedem postmodernen Kurs, den ich belegte habe, versichert wurde, dass Wissenschaft nicht real sei und sich gewiss nicht mit der ‚Wahrheit‘ beschäftige, da ‚objektive Wahrheit‘ lediglich eine soziale Konstruktion sei, deren Sinn einfach darin bestehe, die Menschen zu knechten. Da ich alleine bin, entscheide ich mich, einen kurzen Blick hineinzuwerfen. Die Vorlesungsreihe im Integral Center heißt ‚Boomeritis‘, und ich nehme an, dass das ziemlich lustig werden könnte. Boomer fressen ihre Kinder, hatte Chloe gesagt. Ich war zwar davon ausgegangen, nicht wieder zum IC zurückzukehren. Aber nun blicke ich mich verstohlen um und schlüpfe hinein.
Ein sanfter und lächelnder grauhaariger Gentleman führt in die Vorlesungsreihe ein. Er sieht ein wenig wie mein Vater aus, spricht aber viel eher wie meine Mutter.
„Es erscheint für uns fast unvorstellbar, dass während des gesamten Verweilens der Menschheit auf diesem Planeten – ein paar Millionen Jahre bis zur Gegenwart – Menschen stets in eine Kultur hineingeboren wurden und praktisch nichts über irgendeine andere Kultur wussten. Man wurde zum Beispiel als Chinese geboren, als Chinese erzogen, heiratete einen Chinesen, folgte einer chinesischen Religion und lebte oft sein gesamtes Leben in derselben Hütte in einer Gegend, in welcher sich die Vorfahren schon vor Jahrhunderten angesiedelt hatten. Regelmäßig wurde eine solche kulturelle Isolation dann durch eine fremdartige und groteske Form des Eros unterbrochen, nämlich Krieg, bei dem die Kulturen auf bestechend brutale Art und Weise aufeinandertrafen. Und doch war das geheime Ergebnis dessen immer eine Form des erotischen kulturellen Austauschs. Die Kulturen lernten sich so kennen, sogar in einem biblischen Sinne – ein versteckter, glückseliger Sadomasochismus, der zu dem gegenwärtigen globalen Dorf geführt hat. Von isolierten Stämmen und Gruppen hin zu kleinen Bauerndörfern, zu frühen Stadtstaaten, zu konkurrierenden Feudalreichen, zu sich ausbreitenden internationalen Staaten zu dem heutigen globalen Dorf: Eine Menge Eier wurden zerbrochen, um dieses außergewöhnliche Weltomelette zu erschaffen. Was für ein erbittertes Wachstum hin zu einer integralen Welt, die allem zum Trotz das Schicksal der Menschheit darstellt.“
Ja, na und? Abgesehen davon habe ich das alles schon von meiner Mutter gehört. Die kommende große, gewaltige, glorreiche und weltweite soziale Transformation … als hätte die Kohlenstoffwelt noch irgendetwas Neues zu bieten.
„Die Boomer waren die erste Generation, die in diesem globalen Dorf aufgewachsen ist. Und das, mehr als alles andere, ist die hintergründige Verätzung unserer Seelen, auf der so viel basiert. Ob man nun ein Boomer ist oder nicht, ist dieses globale Bewusstsein etwas, was wir alle zunehmend teilen. Keiner kann dem heutzutage entkommen. Wir leben in einer außergewöhnlichen Zeit, die so noch nie da gewesen ist: Alle Weltkulturen sind einander verfügbar. In der Geschichte der Menschheit ist dies einmalig. Ob zum Guten oder zum Schlechten, es ist eine reiche, multikulturelle Welt, in der hunderte von Kulturen sich gegenseitig kennenlernen, sich aneinander reiben, zueinander finden, hier und da miteinander Handel treiben und versuchen, das alles zu verstehen. Dieses winzige globale Dorf wird jede Minute winziger. Und in diesem globalen Dorf – es ist das einzige, das wir haben – sollten wir zusammenhalten, denn sonst fällt es auseinander.“
Gähn. Wahrscheinlich ist er mit Mom in der High School ausgegangen. Ich sehe es direkt vor mir, wie sie sich gegenseitig ihre Jahrbücher signieren: „Sehen uns bei der kommenden Transformation.“
Ich schaue mich im Raum um. Da sind 150, vielleicht sogar 200 Leute. Ein Großteil sind Boomer, doch etwa ein Drittel scheint zu den zwei folgenden Generationen, der Generation X und Generation Y, zu gehören, auch bekannt als Generation Next und Generation Millenniums – werden sie sich je einig darüber werden, wie sie uns Boomerkinder nun nennen wollen? Allerdings frage ich mich: Warum sind sie in diesem Seminar? Wahrscheinlich gieren sie nach dem Boomer-Selbstmord, der hier Gerüchten zufolge versprochen wird.
„Integral: Das Wort bedeutet zu integrieren, zusammenzufügen, zu verbinden, zu verknüpfen oder zu umschließen. Nicht im Sinne der Uniformität und dass alle wunderbaren Unterschiede, die Farben und Gestalten einer regenbogenfarbenen Menschheit ausgebleicht werden, sondern im Sinne einer Einheit-in-der-Mannigfaltigkeit und in Gemeinsamkeiten, die miteinander geteilt werden, zusammen mit all den wundervollen Unterschieden: Missgunst durch gegenseitige Anerkennung ersetzen und Feindseligkeit durch Respekt, womit jeder in das Zelt gegenseitigen Verständnisses eingeladen wird. Das heißt nicht, dass man mit jedem anderen auch übereinstimmen muss, aber man sollte zumindest versuchen, den anderen zu verstehen, denn die Kehrseite des gegenseitigen Verständnisses ist, einfach gesagt: Krieg.
Das wäre dann die einfachste aller Entscheidungen – Frieden versus Krieg – und doch zeigt die Geschichte die grauenhafte Tatsache, dass der Großteil der Menschheit sich beständig und enthusiastisch für das Letztere entschieden hat. In der Geschichte der Menschheit gab es für jedes Friedensjahr vierzehn Jahre des Krieges. Wir sind ein zänkischer Haufen, wie es scheint, und Hindernisse auf dem Weg zu einer integralen Umarmung sind eher die Regel als die Ausnahme.“
Vierzehn Jahre Krieg, ein Jahr Frieden. Das ist exakt der Grund, warum wir uns in Silicon City downloaden werden. Warum gibt es Krieg? Warum kämpfen wir Menschen gegeneinander? Wir kämpfen um Macht, Nahrung, Besitz, Territorium und manchmal vielleicht einfach nur des verrückten Nervenkitzels wegen. Doch wenn das Bewusstsein in die digitale Ewigkeit gedownloadet wird, dann wird es all diese Dinge im Überfluss geben. Das Bedürfnis nach Krieg wird schwinden. Du willst in Polen einfallen und vergewaltigen, plündern und töten? Fein, programmiere das entsprechend als dein heutiges virtuelles Spiel und leg los. Du wirst den Unterschied zwischen einem ‚realen’ und einem ‚virtuellen’ Krieg sowieso nicht bemerken, also? Warum kann Dad – und dieser Trottel hier offensichtlich ebensowenig – die Offensichtlichkeit dessen nicht erkennen? Wenn ihr denkt, ihr könnt Kriege in der Welt des Fleisches beenden, dann träumt weiter.
„Als ich auf der Universität war, hatte ich einen Kommilitonen, ein Palästinenser, der ein freundlicher und brillanter Mann war, kultiviert, geistreich und leidenschaftlich. Eines Tages fragte ich Simon, was sein damals sechs Jahre alter Sohn wohl machen würde, wenn er erwachsen wäre. Simons freundliches Gesicht wurde plötzlich rot vor Wut: ‚Ich werde ihm beibringen, wie man die Kehlen der Israelis aufschlitzt und ihr Blut trinkt.’ Als sich der Sturm gelegt hatte, sehr schnell übrigens, und die Ruhe wieder eingekehrt war, aßen wir weiter unsere Sandwichs, als wäre nichts geschehen.
Natürlich habe ich das niemals vergessen. Ich habe selbst einen Simon in mir und ich denke, dass auch ihr nicht frei davon seid. Das hat nichts mit Arabern oder Israelis, Weißen oder Nicht-Weißen, Osten oder Westen zu tun. Es hat nur etwas mit unseren eigenen Neigungen und Haltungen zu tun. Einige mögen sagen, dass diese Art von Aggression dem männlichen Geschlecht eigen ist – Testosteron und so weiter – und dass es keine Kriege mehr geben wird, sobald wir weibliche Führer haben. Ich kenne jedoch Simons liebe Frau, Pasha, und sie war ebenso wie Simon dazu entschlossen, die Ehre zu haben, ihren Sohn im Krieg zu opfern. Und so lange die Simons und Pashas in irgendeiner Kultur herrschen, werden wir den Krieg dem Frieden immer vorziehen, oder?“
Nein, solange wir in einer fleischlichen Welt statt in einem Cyberspace leben, wird das Fleisch das Fleisch verschlingen und der Krieg wird den Krieg erzeugen. Daraus gibt es keinen Ausweg, Kumpel.
„Die Menge der Hindernisse auf dem Weg zum Frieden, also hin zu einer integralen Umarmung, scheinen überwältigend. Kann eine wahrhaft integrale Kultur tatsächlich existieren in dem heutigen Klima der Identitätspolitik, der Kulturkriege, der Millionen neuen und sich widersprechenden Paradigmen, des dekonstruktiven Postmodernismus, des Nihilismus, des pluralistischen Relativismus und der Politik des Selbst? Kann eine integrale Vision in einer solchen Atmosphäre überhaupt erkannt, geschweige denn akzeptiert werden? Eine Welt im Krieg oder eine Welt in Frieden? Ist eine solche integrale Kultur überhaupt denkbar? Und wenn ja, wie mag sie beschaffen sein?

Details zum Buch:
  • Format: 14,3 x 21 cm
  • 500 Seiten
  • Hardcover
  • ISBN: 978-3933321695
  • Unser Preis: 24,95€
Bestellbar bei: