Klappentext:
Auf 200 erhellenden und mitreißenden Seiten verschafft Tom Amarque dem Leser immer wieder neue integrale Perspektiven zu einem der interessantesten Phänomene menschlichen Seins: DEM WILLEN. Dieses zentrale Thema des Buches wird im Kontext der Evolution der menschlichen Psyche behandelt. Welche Rolle spielt „Wille“ in der Weiterentwicklung eines jeden? Wie formen wir „Wille“ bewusst aus? Indem Tom Amarque diese und viele Fragen mehr beantwortet, räumt er auf mit unzeitgemäßen Vorstellungen davon, was „Wille“ eigentlich bedeutet und bedeuten sollte. Dieses Buch schafft es, zugleich philosophisch tiefgründig und konkret umsetzbar zu sein. Ein Standardwerk für jeden integral Strebenden und jeden, der sich bewusst mit seinem Denken und Handeln auseinandersetzt.
Stimmen zum Buch:
„Diese neue These des Willens bietet allen, die sich aus einer zeitgemäßen und integralen Perspektive mit Selbsterkenntnis beschäftigen, eine neue Orientierungskarte, in der der Wille als gestaltende und bewusst angewandte Kraft zur Weiterentwicklung ausschlaggebend wird!“ (Dr. Susanne Cook-Greuter)
„Tom Amarques Buch setzt ein Zeichen. Denn seit Jahren wird in Deutschland Integrale Theorie und Evolutionäre Spiritualität zwar intesiv gelesen, aber das kreative Moment kam fast ausschließlich aus den USA. Das scheint sich nun zu ändern. Junge Autoren wie Tom Amarque lesen nicht nur, sie schreiben, und das mit Qualität. Das Buch ‚Der Wille‘ verdient es, gelesen zu werden. Es zeigt, wie aus intellektueller Schärfe und spieritueller Tiefe ein spannendes Buch über den ‚evolutionären Willen‘, den Willen zur Evolution, entsteht.“
(Dr. Thomas Steiniger, Evolve Magazin)
Aus dem Buch:
Einleitung
Inspiriert durch hinduistische Quellen wird das Bewusstsein in der theosophischen Literatur mittels dreier Aspekte beschrieben: Wille, Denken und Fühlen. Die westliche Philosophie scheint sich dabei ausschließlich für den Intellekt zu interessieren, beginnt nur wiederstrebend den Gefühlen Aufmerksamkeit zu schenken und zeigt keinerlei Interesse an dem Willen. Eine wahre integrale Psychologie ehrt indes alle drei Aspekte. [Frank Visser, Ken Wilber: Denker aus Passion]
Die soziologische Systemtheorie untersucht, wie wir Menschen via Kommunikation unsere soziale Wirklichkeit formen. Die Kommunikation von Themen gilt dabei als Element der sozialen Systeme, während Psyche und Nervensystem zur Umwelt dieser sozialen Systeme gehören. Erkenntnis beispielsweise findet in sozialen Systemen nicht statt. Erkenntnis kann sozial zwar kommuniziert, aber nicht von Sozialsystemen erzeugt werden.
Darüber hinaus ist heute als Tatsache der biologischen Erkenntnistheorie anerkannt, dass die externe Außenwelt, wie sie ein Beobachter rein sinnlich wahrnimmt, eine Konstruktion des Gehirns und des Nervensystems ist. Die wahrgenommene Welt gilt nach diesem konstruktivistisch genannten Theoriengebäude als nichts anderes als das Resultat der Gesamtheit neurophysiologischer Operationen. Das heißt nicht, dass das Nervensystem die externe, materielle Welt erzeugt, zu dessen Phänomenbereich es gehört, sondern dass das Nervensystem einfach seine eigene operative neuronale Wirklichkeit erzeugt.
Was auch immer wir beispielsweise von einer Person hören, so ist das, was wir hören, doch stets die neurologische Kodierung physikalischer Schallwellen, welche das Nervensystem anregen, ohne in es einzudringen. Das Nervensystem operiert dabei lediglich in Form elektrisch-chemischer Reize, nicht in Form von Schallwellen oder Gedanken/Vorstellungen, welche psychisch innere Repräsentationen sind.
Psychologisch fundierte Erkenntnistheorien untersuchen daher das Problem des Beobachtens ausgehend von der Psyche des Menschen und erklären, dass uns als psychischen Beobachtern die Operationen des Nervensystems nur als Konzeption oder Vorstellung zugänglich sind und dass wir als psychische Beobachter – unabhängig von einer gedachten, ontologischen Umwelt, zu der auch das Nervensystem gehört – nicht die Grenzen unserer Psyche überschreiten können. Mit anderen Worten: Wir können nicht in Form von elektrochemischen Synapsen- oder Neuronenaktivitäten denken, sondern nur in Form von Gedanken und Vorstellungen. Diese Gedanken und Vorstellungen mögen an die Aktivitäten des Nervensystems gekoppelt sein, doch inwiefern sie dies sind, ist uns als psychischen Beobachtern vorerst noch unmöglich zu sagen.
Aus diesem Grund haben die psychologisch-konstruktivistischen Erkenntnistheorien offenbart, dass die Psyche ihre Wirklichkeiten, zu der auch ihre Vorstellung und Erfahrung einer externen, materiellen Außenwelt gehört, selbst konstruiert. Bemerkenswerterweise wird nun entwicklungsgeschichtlich die Information, dass und wie die Psyche unsere psychische ‚Landkarte’ und Vorstellung der Welt erzeugt, bislang nur sporadisch vom Bewusstsein erzeugt. Die Operationen der Psyche, die für die Konstruktion der psychischen Wirklichkeit verantwortlich sind, scheinen zu komplexer Natur zu sein, als dass wir ad hoc eine Bewusstheit über jene Tiefenstruktur dieser Operationen hätten, die es uns ermöglicht, diese Operationen auch selbst zu navigieren. Die Komplexität unseres sozialen Alltags und unserer Innenwelt ist häufig so hoch, dass wir nur die Oberflächenstruktur unserer psychisch internen Wirklichkeit (zu der beispielsweise auch die Interpretation weltlicher oder sozialer Ereignisse gehört) beobachten können. Die Psyche muss erst im Verlauf ihrer Evolution lernen, diese Information zu erzeugen, das heißt, zu verstehen und zu begreifen, dass wir unsere psychische Wirklichkeit selbst formen.
Im Allgemeinen kann das Nervensystem insofern als ein biologisches System zwischen den Systemen Psyche und Gesellschaft (als Gesamtheit aller sozialen Systeme) und einer ganzen Reihe weiterer Systeme begriffen werden, deren Funktion unter anderem darin besteht, Kommunikation von unterschiedlichen Psychen untereinander sowie Interaktionen der Psyche mit nicht-psychischen Entitäten zu ermöglichen. Diese Art von struktureller Kopplung, also der wechselseitigen Inbezugnahme unterschiedlicher Systeme mit unterschiedlichen Elementen (Psyche: Gedanken und Vorstellungen; Nervensystem: Neuronen; Gesellschaft: Kommunikation) ist eine der Grundannahmen der Systemtheorie. Diese Theorie zeigt, dass es unmöglich ist, dass der psychische Beobachter absolute Aussagen über die externe Außenwelt oder das Nervensystem (das heißt alle Systeme außerhalb der Psyche) machen kann. Dies ist eben deshalb so, weil wir als Beobachter nur innerhalb der Psyche operieren.
Die Konstruktion des Willens
Die traditionelle, aristotelische Erkenntnistheorie war nun davon ausgegangen, dass die Welt genauso ist, wie sie sich in der Wahrnehmung zeigt und hatte damit die konstruktiven Leistungen der Psyche (und des Nervensystems) veräußerlicht. Die Grundannahme dieser 2000 Jahre lang vorherrschenden Erkenntnistheorie war, dass unsere Wahrnehmung die Welt mehr oder weniger 1:1 abbildet. Ausgehend von diesem Paradigma wurde die Welt und die Gesamtheit aller Dinge – also auch der Wille – auf diese Weise beobachtet und bewertet.
Für unsere Überlegung ist dies von großer Bedeutung, denn zu dieser Phänomenologie der Welt gehörte dementsprechend ein Willensbegriff, der im Wesentlichen darin bestand, die Stärke, das Durchsetzungsvermögen oder die Kraft zu kennzeichnen, mit denen sich ein Individuum in dieser ontologisch gedachten Welt bewegt oder sich in ihr durchsetzt und sie verändert. Teil dieser Ansicht war zudem die Auffassung, dass sich Wille in der Stärke zeigt, mit der die Vernunft Gefühle und Emotionen unterwirft.
Die Vernunft wurde seit der Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert als die wesentliche psychische Kapazität betrachtet, mit der man sich in der Welt orientiert, sie erforscht und erkennt. Wille wurde dabei als das besondere Agens verstanden, welches die durch die Vernunft gesetzten Ziele in einer externen Welt umsetzte. Gerade die Moderne und mit ihr das rational denkende Individuum, das aus den traditionellen Werten ausbrach, machte sich so den Willen untertan und spannte ihn zur Erfüllung seiner individualistischen Zielen ein. Dr. Susanne Cook-Greuter, eine international anerkannte Forscherin auf dem Gebiet der Erwachsenenentwicklung, bezeichnet diese Entwicklungsstufe des Menschen als die ‚selbst-bewusste‘ Entwicklungsstufe, bei der Wissenschaft kulturell institutionalisiert wird und bei der sich Demokratie und liberale Ideale wie Religionsfreiheit, Gleichberechtigung, freier Meinungsausdruck und Presse entfalten. Andere Bezeichnungen dieser Stufe sind das ‚modernistische Bewusstsein‘ (Steve McIntosh) oder das ‚orange Mem‘ (Don Beck).
Interessanterweise hängt die Entwicklung der Moderne dabei ganz eng mit der Vorstellung der Evolution zusammen, denn die Idee, dass sich das Universum ausgehend von einem Urknall entwickelt oder dass die biologischen Arten einer Evolution unterworfen sind, kennzeichnet den Paradigmenwechsel zur Moderne. Vor der Moderne ging man davon aus, dass Gott die Welt erschaffen, die Erde ins Zentrum des Universums gesetzt und den Menschen als ursprüngliche Nachkommen von Adam und Eva als seine Statthalter eingesetzt hatte. Diese Glaubenssätze wurden in der Moderne überwunden und zeichnete sich dadurch aus, die externe, gottbefreite Welt erforschen und beherrschen zu wollen. Und der Wille wurde dabei als das Mittel verstanden, dies zu erreichen. Das heißt, schon in der Moderne hing der Wille mit der Konzeption der Evolution zusammen. Hinzu kommt: Wille wurde philosophisch als das Agens begriffen, durch das sich die Evolution in menschlicher Hinsicht ausdrückt. Platon nannte dieses Agens, das in evolutiver Hinsicht von einfacher zur höherer Komplexität führt, Eros. Bergson nannte es später élan vital. Doch am deutlichsten wird diese Deutung des Willens in der Philosophie Arthur Schopenhauers, der in dem Willen ein universelles Prinzip erkennt, das auch im Menschen seinen Ausdruck findet.
Mit dem Wandel von der modernen, in diesem Sinne repräsentationalen Erkenntnistheorie (repräsentational also in dem Sinne, dass unsere Sinne die wirkliche Wirklichkeit 1:1 widerspiegeln) zu einer operativ-konstruktivistischen Erkenntnistheorie (dass soziale Systeme, Nervensystem und Psyche ihre eigenen Wirklichkeiten erzeugen), muss nun aber eine Theorie über den Willen auf radikal andere Grundlagen gestellt werden. Denn hätte nicht der Wille eine ganz andere Funktion in der Ausnutzung des sich diesbezüglich ergebenden Freiheitsspielraums, wenn wir offen legen könnten, wie die Psyche ihre Wirklichkeiten selbst erzeugt?
Wenn wir als psychische Beobachter unsere psychische Wirklichkeit erzeugen, könnte dann nicht der Wille das Werkzeug sein, um diese psychischen Wirklichkeiten zu gestalten? Würde dies in der Folge nicht bedeuten, durch die Anwendung von Wille nicht nur unsere Interpretationen von physikalischen und sozialen Ereignissen verändern zu können, sondern auch dass wir durch diesen Willensakt mitgestalten könnten, nicht nur wie wir auf bestimmte Ereignisse reagieren, sondern ob und wie wir diese überhaupt beobachten wollen. Eine Bejahung dieser Frage würde also zwangläufig darauf hinauslaufen, sich damit auseinanderzusetzen, wie wir die Ereignisse und Phänomene unserer Erfahrungswirklichkeit selegieren.
Und hieße dies dann nicht, dass Wille eine bedeutende Rolle darin spielt, wie wir die Welt und uns selbst beobachten? Würde dies nicht bedeuten, dass wir, anstatt zu denken, in einer Welt zu leben und uns via Willen in dieser Welt zu bewegen, tatsächlich mit einer Wirklichkeit leben, die mit jedem Willensakt verändert wird? Mit anderen Worten: Wäre dann nicht Wille das Mittel, um unsere Landkarte der Welt – unsere psychische Wirklichkeit – verändern zu können? Ein solch konstruktivistischer Wille hätte dann die Funktion, die psychischen Wirklichkeiten, zu der neben anderen Erfahrungswirklichkeiten auch die Wahrnehmung und Erfahrung einer externen Umwelt gehört, nach Maßgabe der Vernunft und des Gefühls zu formen und zu verändern, und zwar im Rahmen der weiteren psychischen Evolution und Emergenzbildung.
Dieses Buch will zeigen, was für Konsequenzen sich ergeben, wenn wir eine Theorie des Willens auf neue, konstruktivistische Grundlagen stellen und hervorheben, welchen Nutzen und welche evolutionären Vorteile sich daraus ergeben. Denn so ein Wille ist nicht nur Ausdruck eines komplexeren Bewusstseins und damit das Resultat der psychischen Evolution, sondern, wie wir sehen werden, auch das Mittel und Werkzeug, diese psychische Evolution weiterhin zu navigieren.
Die Entwicklung des Selbst
Nun wird in der Psychologie, um einen Schritt weiterzugehen, die Psyche gemeinhin als alleinige Ursache des Willens angenommen. Niemand außer uns selbst erzeugt unseren Willen: Dass der Wille uns selbst in genuiner Weise entspringt, ist eine unserer grundlegendsten Selbsterfahrungen. Doch was ist eigentlich das Selbst?
Wie Steve McIntosh in seinem Buch Integrales Bewusstsein erörtert, besteht das menschliche Selbst aus drei großen Entwicklungsbereichen: Kognition (Erkennen), Emotion (Fühlen) und Volition (Wille), wobei er diese drei Bereiche als Einheiten der Metastrukturen für weitere Aspekte und Entwicklungslinien des Selbst setzt, Entwicklungslinien, die sich teilweise miteinander überschneiden:
Kognition: z.B. linguistisch, mathematisch-logisch, musisch, kreativ, Moral und Werte, Weltanschauung, Kommunikation,
Emotion: z.B. Angst, Wut, Trauer, Dankbarkeit, Sexualität, Hoffnung, Liebe, Kommunikation
Volition: z.B. Handlungsfähigkeiten, Fertigkeiten, Motivationen, Konzentration, Intentionalität, Kommunikation
Auch in der Entwicklungspsychologie wird das Selbst als Einheit von Denken, Fühlen und Wille verstanden. Das Selbst (mit seinen Elementen) ist dabei – wie auch immer es in der Vergangenheit modelliert wurde und in Zukunft modelliert wird – dem psychischen Beobachter immer nur in Form eines Modells, als Konstrukt oder eine Vorstellung denkbar und dadurch erst erfahrbar. Ohne psychischen Beobachter gibt es kein Modell über das Selbst. Doch wenn wir Willen in konstruktivistischer Hinsicht neu modellieren, stellt sich damit unmittelbar die Frage: Zu welchen Konsequenzen für eine Vorstellung oder ein Modell des Selbst führt das Ausüben von Wille? Verändern wir nicht das Selbst, wenn wir den Willen – als Element des Selbst – auf neue Grundlagen stellen? Und hinzu kommt: Ist nicht das Selbst eine modellhafte psychische Wirklichkeit, welche sich dann durch den Willen verändern lässt? Und unmittelbar taucht die Frage auf: Wie soll dann ein Selbst beschaffen sein? Um diese Frage zu beantworten, müssen zwei Dinge erwähnt werden.
Zunächst wissen wir spätestens seit den Arbeiten von Robert Kegan, Don Beck und Clare Graves, dass das Selbst – und dabei vor allem das Denken und Fühlen – gewissen Entwicklungen unterworfen ist. Viele psychologische Entwicklungs-Modelle bedienen sich dabei einer drei-phasigen Einteilung, um diese Entwicklung zu skizzieren, und diese Differenzierung kennzeichnet im Allgemeinen die zunehmende Differenzierung und Integration der Komplexität von Psyche oder Selbst und damit unterschiedliche Stufen der Organisation der Komplexität der Psyche. So finden wir etwa die Maslow`schen Stufen moralischer Entwicklung (prä-konventionell, konventionell und post-konventionell), die Stufen kognitiver Entwicklung (prä-rational, rational, trans-rational) oder die Stufen personaler Entwicklung (prä-personal, personal, trans-personal), wie sie von der Transpersonalen Psychologie verwendet wird. Eine ähnliche Differenzierung ist die von prä-egoisch, egoisch und post-egoisch, und diese Differenzierung, die die Stufen zunehmender Bewusstheit über die Selbstkonstruktion und der Selbstentwicklung des Individuums im Allgemeinen kennzeichnet, wollen wir in diesem Buch verwenden. Diese Differenzierung kennzeichnet die Grade notwendiger Ich-Konstitution und Ich-Transzendenz.
Des Weiteren haben Forscher wie z.B. Susanne Cook-Greuter und Clare Graves gezeigt, dass die Psyche erst eine bestimmte Form der Emergenz und Komplexitätsverarbeitung erreicht haben muss, um die Idee der Evolution des Geistes und der Psyche überhaupt begreifen und umsetzen zu können. Als einfachstes Beispiel sei dafür angeführt, dass Kleinkinder, die eine prä-egoische Stufe der Entwicklung durchlaufen, diese Entwicklung selbst weder beobachten noch steuern können. Sie geschieht ihnen einfach. Unabhängig davon, welche Phasen also die Evolution der Psyche im Detail durchläuft, kann sich der menschliche Geist die Kapazität erarbeiten, das Konzept der Evolution der Psyche fassen zu können, um sie im nächsten Schritt auch selbst steuern zu können. Diese psychische Emergenz des Erfassens und Steuerns der psychischen Evolution wollen wir nun post-egoisch nennen, und es lassen sich unterschiedliche post-egoische Emergenzstufen des Selbst beobachten, die unterschiedliche Grade dieses Erfassens und Steuerns der Evolution kennzeichnen.
Um bei Cook-Greuter zu bleiben: Es sind also höhere Stufen der Bewusstseinsentwicklung nötig, um die Idee der sich sukzessiv entfaltenden Bewusstseinsstufen bei sich selbst erfassen zu können. Nicht zuletzt deshalb sagte Julian Huxley, dass Menschsein Evolution ist, die sich ihrer selbst bewusst wird. Oder, um mit Steve McIntosh zu sprechen: Wir sind gleichzeitig Produkte und Agenten der Evolution. Man muss sich also nicht nur die Evolution der Psyche und des Selbst vorstellen, um sie aktiv steuern zu können, sondern man muss sich auch vorstellen können, dass man diese Evolution selbst steuern kann. Damit erzeugt man dann die Möglichkeit der Navigation. Wenn wir dies aber tun, verändern wir die Wirklichkeit des Selbst, und diese Veränderung geschieht durch den Willen. Sprechen wir so über die Veränderung des psychischen Modells vom Selbst via Willen, müssen wir auch zwangsläufig den Gedanken akzeptieren, dass sich die Beschreibungen und Modelle vom Selbst ändern (und dies in der Vergangenheit bereits getan haben).
Wenn wir über den Willen unsere psychische Wirklichkeit gestalten, dann können wir auch die Wirklichkeit unseres Selbst gestalten? Und heißt dies nicht auch, dass wir mit Willen auch höhere Stufen der Selbstentwicklung realisieren können, Stufen, die ganzheitlicher, integraler, allumfassender und weniger durch die Gedanken und Vorstellungen eines Egos oder einer Ich-Bezogenheit getrübt sind? Stufen, die man früher ‚transzendent‘, ‚erleuchtet‘ nannte, heute eher als ‚nondual‘ bezeichnet?
Diese Fähigkeit – das Erlernen des Beobachtens, Begreifens und Steuerns der Evolution – ist, unabhängig davon, was es sonst noch ist, von seiner Natur her immer Wille. Dabei ist egal, welche Techniken und Methoden im Einzelnen angewandt werden. Jede Anwendung von Willen führt rekursiv zur Entwicklung des Gesamtselbst und der Psyche, weil wir via Willen unsere Wirklichkeiten formen, also auch die Wirklichkeit unseres Selbst. Wille und Selbst – und die Entwicklung derselben – scheinen also in einer engen Beziehung miteinander zu stehen.
Die Entwicklung des Willens
Wie auch immer diese Entwicklungen beschaffen sind, muss – sofern wir die Psyche als Ursache des Willens annehmen – ein integrales wie konstruktivistisches Modell des Willens zeigen, inwiefern mit der Entwicklung des Selbst auch der Wille einer Entwicklung unterworfen ist. Genauer: Wenn wir mit unserem Willen die Entwicklung des Selbst als Gesamtstruktur des Denkens, Fühlens und Wollens anregen, muss sich diese Entwicklung in rekursiver Weise auch wieder auf die weitere Entwicklung des Willens auswirken. Verändern wir das Selbst, verändern wir den Willen. Verändern wir den Willen, verändern wir wiederum das Selbst. Diese gegenseitige Interdependenz unterschiedlicher Systemebenen ermöglicht überhaupt erst die Entwicklung.
Grafik 1: Entwicklung von Selbst und Wille
In Grafik 1 ist dargestellt, wie die post-egoische Entwicklung des Selbst nicht nur mit der Entwicklung des Willens zusammenhängt, sondern auch mit den anderen Elementen des Selbst, nämlich Kognition und Emotion. Jede Entwicklungsstufe des Selbst und des Willens integriert und transzendiert damit die vorherige. Und jede Entwicklungsstufe des Selbst kennzeichnet sich durch eine äquivalente Entwicklungsstufe seiner Elemente. Derart finden wir drei post-egoische Stufen der Volition, deren Definition und Beschreibung Thema dieses Buches ist.
Man muss also davon ausgehen, dass sich mit den unterschiedlichen Entwicklungsstufen des Selbst auch die Qualität und die Quantität des Willens verändern. Aber auch hier gilt: Ohne psychischen Beobachter kein Wille, denn ohne den Beobachter findet keine Beobachtung statt und keine Modellierung und ohne Modellierung kein Wille, mit dem man das Selbst verändern könnte. Nochmals: Begreifen wir den Willen als eine bewusst angewandte Kraft, durch die wir unser Selbst formen und entwickeln können, so muss sich mit der Entwicklung des Selbst auch wiederum der Wille entwickeln. Wie können drei allgemeine Ebenen oder Stufen des Willens differenzieren, die sich lediglich durch die zunehmende Komplexität der Fähigkeit auszeichnen, diese Entwicklung des Selbst und der Psyche tatsächlich zu steuern.
Drei Fragen
Es zeigt sich also, dass die Entwicklung des Selbst und des Willens nicht unabhängig voneinander zu denken sind. Wir haben somit drei zusammenhängende Konstruktionen, denen wir uns im ersten Teil dieses Buches widmen wollen:
Welche Rolle spielt der Wille bei der Konstruktion der psychischen Wirklichkeit?
Inwiefern kann die Anwendung des Willens die Entwicklung (und damit die Konstruktion der Wirklichkeit) des Gesamtselbst (als Einheit und Gesamtstruktur von Denken, Fühlen und Wille) bedingen?
Inwiefern bedingt die Entwicklung des Gesamtselbst wiederum die Entwicklung des Willens?
Bei diesen Ausgangspunkten muss berücksichtigt werden, dass der Wandel von der aristotelischen zur konstruktivistischen Erkenntnistheorie in Bezug auf eine neue Willenstheorie bedeutet, dass wir nicht mehr nach ontologischen Größen fragen dürfen, sondern nach kognitiven Konzepten und Begriffen von und über bestimmte Größen. In diesem Unterfangen dürfen wir aber die Tatsache nicht unterschlagen, dass wir selbst Produkte und Agenten der Evolution sind. Wir können nicht anders, als evolutionär zu handeln. Wie wir dies tun können, muss ein neues Modell über den Willen klären, denn Wille Selbst ist das Produkt und das Agens der Evolution.
Klappentext:
Auf 200 erhellenden und mitreißenden Seiten verschafft Tom Amarque dem Leser immer wieder neue integrale Perspektiven zu einem der interessantesten Phänomene menschlichen Seins: DEM WILLEN. Dieses zentrale Thema des Buches wird im Kontext der Evolution der menschlichen Psyche behandelt. Welche Rolle spielt „Wille“ in der Weiterentwicklung eines jeden? Wie formen wir „Wille“ bewusst aus? Indem Tom Amarque diese und viele Fragen mehr beantwortet, räumt er auf mit unzeitgemäßen Vorstellungen davon, was „Wille“ eigentlich bedeutet und bedeuten sollte. Dieses Buch schafft es, zugleich philosophisch tiefgründig und konkret umsetzbar zu sein. Ein Standardwerk für jeden integral Strebenden und jeden, der sich bewusst mit seinem Denken und Handeln auseinandersetzt.
Stimmen zum Buch:
„Diese neue These des Willens bietet allen, die sich aus einer zeitgemäßen und integralen Perspektive mit Selbsterkenntnis beschäftigen, eine neue Orientierungskarte, in der der Wille als gestaltende und bewusst angewandte Kraft zur Weiterentwicklung ausschlaggebend wird!“ (Dr. Susanne Cook-Greuter)
„Tom Amarques Buch setzt ein Zeichen. Denn seit Jahren wird in Deutschland Integrale Theorie und Evolutionäre Spiritualität zwar intesiv gelesen, aber das kreative Moment kam fast ausschließlich aus den USA. Das scheint sich nun zu ändern. Junge Autoren wie Tom Amarque lesen nicht nur, sie schreiben, und das mit Qualität. Das Buch ‚Der Wille‘ verdient es, gelesen zu werden. Es zeigt, wie aus intellektueller Schärfe und spieritueller Tiefe ein spannendes Buch über den ‚evolutionären Willen‘, den Willen zur Evolution, entsteht.“
(Dr. Thomas Steiniger, Evolve Magazin)
Aus dem Buch:
Einleitung
Inspiriert durch hinduistische Quellen wird das Bewusstsein in der theosophischen Literatur mittels dreier Aspekte beschrieben: Wille, Denken und Fühlen. Die westliche Philosophie scheint sich dabei ausschließlich für den Intellekt zu interessieren, beginnt nur wiederstrebend den Gefühlen Aufmerksamkeit zu schenken und zeigt keinerlei Interesse an dem Willen. Eine wahre integrale Psychologie ehrt indes alle drei Aspekte. [Frank Visser, Ken Wilber: Denker aus Passion]
Die soziologische Systemtheorie untersucht, wie wir Menschen via Kommunikation unsere soziale Wirklichkeit formen. Die Kommunikation von Themen gilt dabei als Element der sozialen Systeme, während Psyche und Nervensystem zur Umwelt dieser sozialen Systeme gehören. Erkenntnis beispielsweise findet in sozialen Systemen nicht statt. Erkenntnis kann sozial zwar kommuniziert, aber nicht von Sozialsystemen erzeugt werden.
Darüber hinaus ist heute als Tatsache der biologischen Erkenntnistheorie anerkannt, dass die externe Außenwelt, wie sie ein Beobachter rein sinnlich wahrnimmt, eine Konstruktion des Gehirns und des Nervensystems ist. Die wahrgenommene Welt gilt nach diesem konstruktivistisch genannten Theoriengebäude als nichts anderes als das Resultat der Gesamtheit neurophysiologischer Operationen. Das heißt nicht, dass das Nervensystem die externe, materielle Welt erzeugt, zu dessen Phänomenbereich es gehört, sondern dass das Nervensystem einfach seine eigene operative neuronale Wirklichkeit erzeugt.
Was auch immer wir beispielsweise von einer Person hören, so ist das, was wir hören, doch stets die neurologische Kodierung physikalischer Schallwellen, welche das Nervensystem anregen, ohne in es einzudringen. Das Nervensystem operiert dabei lediglich in Form elektrisch-chemischer Reize, nicht in Form von Schallwellen oder Gedanken/Vorstellungen, welche psychisch innere Repräsentationen sind.
Psychologisch fundierte Erkenntnistheorien untersuchen daher das Problem des Beobachtens ausgehend von der Psyche des Menschen und erklären, dass uns als psychischen Beobachtern die Operationen des Nervensystems nur als Konzeption oder Vorstellung zugänglich sind und dass wir als psychische Beobachter – unabhängig von einer gedachten, ontologischen Umwelt, zu der auch das Nervensystem gehört – nicht die Grenzen unserer Psyche überschreiten können. Mit anderen Worten: Wir können nicht in Form von elektrochemischen Synapsen- oder Neuronenaktivitäten denken, sondern nur in Form von Gedanken und Vorstellungen. Diese Gedanken und Vorstellungen mögen an die Aktivitäten des Nervensystems gekoppelt sein, doch inwiefern sie dies sind, ist uns als psychischen Beobachtern vorerst noch unmöglich zu sagen.
Aus diesem Grund haben die psychologisch-konstruktivistischen Erkenntnistheorien offenbart, dass die Psyche ihre Wirklichkeiten, zu der auch ihre Vorstellung und Erfahrung einer externen, materiellen Außenwelt gehört, selbst konstruiert. Bemerkenswerterweise wird nun entwicklungsgeschichtlich die Information, dass und wie die Psyche unsere psychische ‚Landkarte’ und Vorstellung der Welt erzeugt, bislang nur sporadisch vom Bewusstsein erzeugt. Die Operationen der Psyche, die für die Konstruktion der psychischen Wirklichkeit verantwortlich sind, scheinen zu komplexer Natur zu sein, als dass wir ad hoc eine Bewusstheit über jene Tiefenstruktur dieser Operationen hätten, die es uns ermöglicht, diese Operationen auch selbst zu navigieren. Die Komplexität unseres sozialen Alltags und unserer Innenwelt ist häufig so hoch, dass wir nur die Oberflächenstruktur unserer psychisch internen Wirklichkeit (zu der beispielsweise auch die Interpretation weltlicher oder sozialer Ereignisse gehört) beobachten können. Die Psyche muss erst im Verlauf ihrer Evolution lernen, diese Information zu erzeugen, das heißt, zu verstehen und zu begreifen, dass wir unsere psychische Wirklichkeit selbst formen.
Im Allgemeinen kann das Nervensystem insofern als ein biologisches System zwischen den Systemen Psyche und Gesellschaft (als Gesamtheit aller sozialen Systeme) und einer ganzen Reihe weiterer Systeme begriffen werden, deren Funktion unter anderem darin besteht, Kommunikation von unterschiedlichen Psychen untereinander sowie Interaktionen der Psyche mit nicht-psychischen Entitäten zu ermöglichen. Diese Art von struktureller Kopplung, also der wechselseitigen Inbezugnahme unterschiedlicher Systeme mit unterschiedlichen Elementen (Psyche: Gedanken und Vorstellungen; Nervensystem: Neuronen; Gesellschaft: Kommunikation) ist eine der Grundannahmen der Systemtheorie. Diese Theorie zeigt, dass es unmöglich ist, dass der psychische Beobachter absolute Aussagen über die externe Außenwelt oder das Nervensystem (das heißt alle Systeme außerhalb der Psyche) machen kann. Dies ist eben deshalb so, weil wir als Beobachter nur innerhalb der Psyche operieren.
Die Konstruktion des Willens
Die traditionelle, aristotelische Erkenntnistheorie war nun davon ausgegangen, dass die Welt genauso ist, wie sie sich in der Wahrnehmung zeigt und hatte damit die konstruktiven Leistungen der Psyche (und des Nervensystems) veräußerlicht. Die Grundannahme dieser 2000 Jahre lang vorherrschenden Erkenntnistheorie war, dass unsere Wahrnehmung die Welt mehr oder weniger 1:1 abbildet. Ausgehend von diesem Paradigma wurde die Welt und die Gesamtheit aller Dinge – also auch der Wille – auf diese Weise beobachtet und bewertet.
Für unsere Überlegung ist dies von großer Bedeutung, denn zu dieser Phänomenologie der Welt gehörte dementsprechend ein Willensbegriff, der im Wesentlichen darin bestand, die Stärke, das Durchsetzungsvermögen oder die Kraft zu kennzeichnen, mit denen sich ein Individuum in dieser ontologisch gedachten Welt bewegt oder sich in ihr durchsetzt und sie verändert. Teil dieser Ansicht war zudem die Auffassung, dass sich Wille in der Stärke zeigt, mit der die Vernunft Gefühle und Emotionen unterwirft.
Die Vernunft wurde seit der Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert als die wesentliche psychische Kapazität betrachtet, mit der man sich in der Welt orientiert, sie erforscht und erkennt. Wille wurde dabei als das besondere Agens verstanden, welches die durch die Vernunft gesetzten Ziele in einer externen Welt umsetzte. Gerade die Moderne und mit ihr das rational denkende Individuum, das aus den traditionellen Werten ausbrach, machte sich so den Willen untertan und spannte ihn zur Erfüllung seiner individualistischen Zielen ein. Dr. Susanne Cook-Greuter, eine international anerkannte Forscherin auf dem Gebiet der Erwachsenenentwicklung, bezeichnet diese Entwicklungsstufe des Menschen als die ‚selbst-bewusste‘ Entwicklungsstufe, bei der Wissenschaft kulturell institutionalisiert wird und bei der sich Demokratie und liberale Ideale wie Religionsfreiheit, Gleichberechtigung, freier Meinungsausdruck und Presse entfalten. Andere Bezeichnungen dieser Stufe sind das ‚modernistische Bewusstsein‘ (Steve McIntosh) oder das ‚orange Mem‘ (Don Beck).
Interessanterweise hängt die Entwicklung der Moderne dabei ganz eng mit der Vorstellung der Evolution zusammen, denn die Idee, dass sich das Universum ausgehend von einem Urknall entwickelt oder dass die biologischen Arten einer Evolution unterworfen sind, kennzeichnet den Paradigmenwechsel zur Moderne. Vor der Moderne ging man davon aus, dass Gott die Welt erschaffen, die Erde ins Zentrum des Universums gesetzt und den Menschen als ursprüngliche Nachkommen von Adam und Eva als seine Statthalter eingesetzt hatte. Diese Glaubenssätze wurden in der Moderne überwunden und zeichnete sich dadurch aus, die externe, gottbefreite Welt erforschen und beherrschen zu wollen. Und der Wille wurde dabei als das Mittel verstanden, dies zu erreichen. Das heißt, schon in der Moderne hing der Wille mit der Konzeption der Evolution zusammen. Hinzu kommt: Wille wurde philosophisch als das Agens begriffen, durch das sich die Evolution in menschlicher Hinsicht ausdrückt. Platon nannte dieses Agens, das in evolutiver Hinsicht von einfacher zur höherer Komplexität führt, Eros. Bergson nannte es später élan vital. Doch am deutlichsten wird diese Deutung des Willens in der Philosophie Arthur Schopenhauers, der in dem Willen ein universelles Prinzip erkennt, das auch im Menschen seinen Ausdruck findet.
Mit dem Wandel von der modernen, in diesem Sinne repräsentationalen Erkenntnistheorie (repräsentational also in dem Sinne, dass unsere Sinne die wirkliche Wirklichkeit 1:1 widerspiegeln) zu einer operativ-konstruktivistischen Erkenntnistheorie (dass soziale Systeme, Nervensystem und Psyche ihre eigenen Wirklichkeiten erzeugen), muss nun aber eine Theorie über den Willen auf radikal andere Grundlagen gestellt werden. Denn hätte nicht der Wille eine ganz andere Funktion in der Ausnutzung des sich diesbezüglich ergebenden Freiheitsspielraums, wenn wir offen legen könnten, wie die Psyche ihre Wirklichkeiten selbst erzeugt?
Wenn wir als psychische Beobachter unsere psychische Wirklichkeit erzeugen, könnte dann nicht der Wille das Werkzeug sein, um diese psychischen Wirklichkeiten zu gestalten? Würde dies in der Folge nicht bedeuten, durch die Anwendung von Wille nicht nur unsere Interpretationen von physikalischen und sozialen Ereignissen verändern zu können, sondern auch dass wir durch diesen Willensakt mitgestalten könnten, nicht nur wie wir auf bestimmte Ereignisse reagieren, sondern ob und wie wir diese überhaupt beobachten wollen. Eine Bejahung dieser Frage würde also zwangläufig darauf hinauslaufen, sich damit auseinanderzusetzen, wie wir die Ereignisse und Phänomene unserer Erfahrungswirklichkeit selegieren.
Und hieße dies dann nicht, dass Wille eine bedeutende Rolle darin spielt, wie wir die Welt und uns selbst beobachten? Würde dies nicht bedeuten, dass wir, anstatt zu denken, in einer Welt zu leben und uns via Willen in dieser Welt zu bewegen, tatsächlich mit einer Wirklichkeit leben, die mit jedem Willensakt verändert wird? Mit anderen Worten: Wäre dann nicht Wille das Mittel, um unsere Landkarte der Welt – unsere psychische Wirklichkeit – verändern zu können? Ein solch konstruktivistischer Wille hätte dann die Funktion, die psychischen Wirklichkeiten, zu der neben anderen Erfahrungswirklichkeiten auch die Wahrnehmung und Erfahrung einer externen Umwelt gehört, nach Maßgabe der Vernunft und des Gefühls zu formen und zu verändern, und zwar im Rahmen der weiteren psychischen Evolution und Emergenzbildung.
Dieses Buch will zeigen, was für Konsequenzen sich ergeben, wenn wir eine Theorie des Willens auf neue, konstruktivistische Grundlagen stellen und hervorheben, welchen Nutzen und welche evolutionären Vorteile sich daraus ergeben. Denn so ein Wille ist nicht nur Ausdruck eines komplexeren Bewusstseins und damit das Resultat der psychischen Evolution, sondern, wie wir sehen werden, auch das Mittel und Werkzeug, diese psychische Evolution weiterhin zu navigieren.
Die Entwicklung des Selbst
Nun wird in der Psychologie, um einen Schritt weiterzugehen, die Psyche gemeinhin als alleinige Ursache des Willens angenommen. Niemand außer uns selbst erzeugt unseren Willen: Dass der Wille uns selbst in genuiner Weise entspringt, ist eine unserer grundlegendsten Selbsterfahrungen. Doch was ist eigentlich das Selbst?
Wie Steve McIntosh in seinem Buch Integrales Bewusstsein erörtert, besteht das menschliche Selbst aus drei großen Entwicklungsbereichen: Kognition (Erkennen), Emotion (Fühlen) und Volition (Wille), wobei er diese drei Bereiche als Einheiten der Metastrukturen für weitere Aspekte und Entwicklungslinien des Selbst setzt, Entwicklungslinien, die sich teilweise miteinander überschneiden:
Kognition: z.B. linguistisch, mathematisch-logisch, musisch, kreativ, Moral und Werte, Weltanschauung, Kommunikation,
Emotion: z.B. Angst, Wut, Trauer, Dankbarkeit, Sexualität, Hoffnung, Liebe, Kommunikation
Volition: z.B. Handlungsfähigkeiten, Fertigkeiten, Motivationen, Konzentration, Intentionalität, Kommunikation
Auch in der Entwicklungspsychologie wird das Selbst als Einheit von Denken, Fühlen und Wille verstanden. Das Selbst (mit seinen Elementen) ist dabei – wie auch immer es in der Vergangenheit modelliert wurde und in Zukunft modelliert wird – dem psychischen Beobachter immer nur in Form eines Modells, als Konstrukt oder eine Vorstellung denkbar und dadurch erst erfahrbar. Ohne psychischen Beobachter gibt es kein Modell über das Selbst. Doch wenn wir Willen in konstruktivistischer Hinsicht neu modellieren, stellt sich damit unmittelbar die Frage: Zu welchen Konsequenzen für eine Vorstellung oder ein Modell des Selbst führt das Ausüben von Wille? Verändern wir nicht das Selbst, wenn wir den Willen – als Element des Selbst – auf neue Grundlagen stellen? Und hinzu kommt: Ist nicht das Selbst eine modellhafte psychische Wirklichkeit, welche sich dann durch den Willen verändern lässt? Und unmittelbar taucht die Frage auf: Wie soll dann ein Selbst beschaffen sein? Um diese Frage zu beantworten, müssen zwei Dinge erwähnt werden.
Zunächst wissen wir spätestens seit den Arbeiten von Robert Kegan, Don Beck und Clare Graves, dass das Selbst – und dabei vor allem das Denken und Fühlen – gewissen Entwicklungen unterworfen ist. Viele psychologische Entwicklungs-Modelle bedienen sich dabei einer drei-phasigen Einteilung, um diese Entwicklung zu skizzieren, und diese Differenzierung kennzeichnet im Allgemeinen die zunehmende Differenzierung und Integration der Komplexität von Psyche oder Selbst und damit unterschiedliche Stufen der Organisation der Komplexität der Psyche. So finden wir etwa die Maslow`schen Stufen moralischer Entwicklung (prä-konventionell, konventionell und post-konventionell), die Stufen kognitiver Entwicklung (prä-rational, rational, trans-rational) oder die Stufen personaler Entwicklung (prä-personal, personal, trans-personal), wie sie von der Transpersonalen Psychologie verwendet wird. Eine ähnliche Differenzierung ist die von prä-egoisch, egoisch und post-egoisch, und diese Differenzierung, die die Stufen zunehmender Bewusstheit über die Selbstkonstruktion und der Selbstentwicklung des Individuums im Allgemeinen kennzeichnet, wollen wir in diesem Buch verwenden. Diese Differenzierung kennzeichnet die Grade notwendiger Ich-Konstitution und Ich-Transzendenz.
Des Weiteren haben Forscher wie z.B. Susanne Cook-Greuter und Clare Graves gezeigt, dass die Psyche erst eine bestimmte Form der Emergenz und Komplexitätsverarbeitung erreicht haben muss, um die Idee der Evolution des Geistes und der Psyche überhaupt begreifen und umsetzen zu können. Als einfachstes Beispiel sei dafür angeführt, dass Kleinkinder, die eine prä-egoische Stufe der Entwicklung durchlaufen, diese Entwicklung selbst weder beobachten noch steuern können. Sie geschieht ihnen einfach. Unabhängig davon, welche Phasen also die Evolution der Psyche im Detail durchläuft, kann sich der menschliche Geist die Kapazität erarbeiten, das Konzept der Evolution der Psyche fassen zu können, um sie im nächsten Schritt auch selbst steuern zu können. Diese psychische Emergenz des Erfassens und Steuerns der psychischen Evolution wollen wir nun post-egoisch nennen, und es lassen sich unterschiedliche post-egoische Emergenzstufen des Selbst beobachten, die unterschiedliche Grade dieses Erfassens und Steuerns der Evolution kennzeichnen.
Um bei Cook-Greuter zu bleiben: Es sind also höhere Stufen der Bewusstseinsentwicklung nötig, um die Idee der sich sukzessiv entfaltenden Bewusstseinsstufen bei sich selbst erfassen zu können. Nicht zuletzt deshalb sagte Julian Huxley, dass Menschsein Evolution ist, die sich ihrer selbst bewusst wird. Oder, um mit Steve McIntosh zu sprechen: Wir sind gleichzeitig Produkte und Agenten der Evolution. Man muss sich also nicht nur die Evolution der Psyche und des Selbst vorstellen, um sie aktiv steuern zu können, sondern man muss sich auch vorstellen können, dass man diese Evolution selbst steuern kann. Damit erzeugt man dann die Möglichkeit der Navigation. Wenn wir dies aber tun, verändern wir die Wirklichkeit des Selbst, und diese Veränderung geschieht durch den Willen. Sprechen wir so über die Veränderung des psychischen Modells vom Selbst via Willen, müssen wir auch zwangsläufig den Gedanken akzeptieren, dass sich die Beschreibungen und Modelle vom Selbst ändern (und dies in der Vergangenheit bereits getan haben).
Wenn wir über den Willen unsere psychische Wirklichkeit gestalten, dann können wir auch die Wirklichkeit unseres Selbst gestalten? Und heißt dies nicht auch, dass wir mit Willen auch höhere Stufen der Selbstentwicklung realisieren können, Stufen, die ganzheitlicher, integraler, allumfassender und weniger durch die Gedanken und Vorstellungen eines Egos oder einer Ich-Bezogenheit getrübt sind? Stufen, die man früher ‚transzendent‘, ‚erleuchtet‘ nannte, heute eher als ‚nondual‘ bezeichnet?
Diese Fähigkeit – das Erlernen des Beobachtens, Begreifens und Steuerns der Evolution – ist, unabhängig davon, was es sonst noch ist, von seiner Natur her immer Wille. Dabei ist egal, welche Techniken und Methoden im Einzelnen angewandt werden. Jede Anwendung von Willen führt rekursiv zur Entwicklung des Gesamtselbst und der Psyche, weil wir via Willen unsere Wirklichkeiten formen, also auch die Wirklichkeit unseres Selbst. Wille und Selbst – und die Entwicklung derselben – scheinen also in einer engen Beziehung miteinander zu stehen.
Die Entwicklung des Willens
Wie auch immer diese Entwicklungen beschaffen sind, muss – sofern wir die Psyche als Ursache des Willens annehmen – ein integrales wie konstruktivistisches Modell des Willens zeigen, inwiefern mit der Entwicklung des Selbst auch der Wille einer Entwicklung unterworfen ist. Genauer: Wenn wir mit unserem Willen die Entwicklung des Selbst als Gesamtstruktur des Denkens, Fühlens und Wollens anregen, muss sich diese Entwicklung in rekursiver Weise auch wieder auf die weitere Entwicklung des Willens auswirken. Verändern wir das Selbst, verändern wir den Willen. Verändern wir den Willen, verändern wir wiederum das Selbst. Diese gegenseitige Interdependenz unterschiedlicher Systemebenen ermöglicht überhaupt erst die Entwicklung.
Grafik 1: Entwicklung von Selbst und Wille
In Grafik 1 ist dargestellt, wie die post-egoische Entwicklung des Selbst nicht nur mit der Entwicklung des Willens zusammenhängt, sondern auch mit den anderen Elementen des Selbst, nämlich Kognition und Emotion. Jede Entwicklungsstufe des Selbst und des Willens integriert und transzendiert damit die vorherige. Und jede Entwicklungsstufe des Selbst kennzeichnet sich durch eine äquivalente Entwicklungsstufe seiner Elemente. Derart finden wir drei post-egoische Stufen der Volition, deren Definition und Beschreibung Thema dieses Buches ist.
Man muss also davon ausgehen, dass sich mit den unterschiedlichen Entwicklungsstufen des Selbst auch die Qualität und die Quantität des Willens verändern. Aber auch hier gilt: Ohne psychischen Beobachter kein Wille, denn ohne den Beobachter findet keine Beobachtung statt und keine Modellierung und ohne Modellierung kein Wille, mit dem man das Selbst verändern könnte. Nochmals: Begreifen wir den Willen als eine bewusst angewandte Kraft, durch die wir unser Selbst formen und entwickeln können, so muss sich mit der Entwicklung des Selbst auch wiederum der Wille entwickeln. Wie können drei allgemeine Ebenen oder Stufen des Willens differenzieren, die sich lediglich durch die zunehmende Komplexität der Fähigkeit auszeichnen, diese Entwicklung des Selbst und der Psyche tatsächlich zu steuern.
Drei Fragen
Es zeigt sich also, dass die Entwicklung des Selbst und des Willens nicht unabhängig voneinander zu denken sind. Wir haben somit drei zusammenhängende Konstruktionen, denen wir uns im ersten Teil dieses Buches widmen wollen:
Welche Rolle spielt der Wille bei der Konstruktion der psychischen Wirklichkeit?
Inwiefern kann die Anwendung des Willens die Entwicklung (und damit die Konstruktion der Wirklichkeit) des Gesamtselbst (als Einheit und Gesamtstruktur von Denken, Fühlen und Wille) bedingen?
Inwiefern bedingt die Entwicklung des Gesamtselbst wiederum die Entwicklung des Willens?
Bei diesen Ausgangspunkten muss berücksichtigt werden, dass der Wandel von der aristotelischen zur konstruktivistischen Erkenntnistheorie in Bezug auf eine neue Willenstheorie bedeutet, dass wir nicht mehr nach ontologischen Größen fragen dürfen, sondern nach kognitiven Konzepten und Begriffen von und über bestimmte Größen. In diesem Unterfangen dürfen wir aber die Tatsache nicht unterschlagen, dass wir selbst Produkte und Agenten der Evolution sind. Wir können nicht anders, als evolutionär zu handeln. Wie wir dies tun können, muss ein neues Modell über den Willen klären, denn Wille Selbst ist das Produkt und das Agens der Evolution.