Swami Vivekananda (bengalisch: বিবেকানন্দ, Bibekānanda, * 12. Januar 1863 in Kolkata; † 4. Juli 1902 in Haora; bürgerlicher Name: Narendranath Datta) war ein hinduistischer Mönch und Gelehrter. Vivekananda sprach als erster Hindu vor dem Weltparlament der Religionen (World Parliament of Religions) im Jahre 1893 in Chicago.
Vivekananda war der Sohn eines Rechtsanwalts aus Kalkutta (heute: Kolkata). Die Stadt war eines der wichtigsten geistigen Zentren des kolonialen Indiens und er setzte sich schon in seinen Collegejahren ab 1880 mit westlichen Philosophen und Intellektuellen wie Hegel und Herbert Spencer auseinander. Anfangs gehörte er einer hinduistischen Reformbewegung, dem Sadharana-Samaj an, bei dem er jedoch die persönliche religiöse Erfahrung vermisste. Im Alter von 18 Jahren besuchte Narendranath Datta den Mystiker Ramakrishna im Kali-Tempel Dakshineshwar zum ersten Mal. Dieser soll ihn mit Tränen in den Augen empfangen haben. Der an englischen Schulen erzogene und zum Atheismus neigende Narendra blieb jedoch zunächst skeptisch. Ramakrishna gab ihm ganz persönliche Unterweisung und nach und nach überwand er seine inneren Widerstände und wurde zu seinem Lieblingsschüler. Im Jahre 1884 wurde Vivekananda ein Mitglied im Bund der Freimaurer, seine Loge, Anchor and Hope No. 1, ist in Kalkutta ansässig [1]. Nach dem Tod seines Meisters 1886 ging Vivekananda auf religiöse Pilgerreise durch Indien. Er besuchte unter anderem Benares (heute Varanasi), Ayodhya, Mysore und Madras (heute Chennai). 1893 hielt er sich in den USA auf und wurde als ungeladener Gast auf dem Weltparlament der Religionen bei der World’s Columbian Exposition in Chicago nach einem viel umjubelten Auftritt als strahlender Vertreter indischer Religiosität einem breiten Publikum im Westen bekannt. Er bestimmte auf dem Weltparlament der Religionen das erste Mal den Hinduismus, mit all seinen unterschiedlichen Strömungen, als Religion. Seine 13. und letzte Rede auf dem Kongress schloss mit folgenden Worten:
„Wenn das Parlament der Religionen der Welt etwas gezeigt hat, dann ist es Folgendes: Es hat der Welt bewiesen, dass Heiligkeit, Reinheit und Mildtätigkeit nicht ausschließliche Besitztümer irgendeiner Kirche in der Welt sind und dass jedes System Männer und Frauen von erhabenstem Charakter erzeugt hat. Angesichts dieser Tatsachen bemitleide ich von ganzem Herzen denjenigen, der vom ausschließlichen Überleben seiner eigenen Religion träumt und von der Zerstörung der anderen; und ich zeige ihm, dass auf dem Banner jeder Religion trotz Widerstandes bald geschrieben stehen wird: „Hilfe und nicht Kampf“, „Gegenseitiges Durchdringen und nicht Zerstörung“, „Harmonie und Frieden und nicht Widerspruch“.“
– Übersetzung von Jyotishman Dam aus Nikhilananda, Swami: Vivekananda, A Biography, Calcutta 1987
Seine Reden fanden in Amerika so großen Anklang, dass er in New York die „Vedanta Society“ gründete. Finanziert wurden seine Reisen unter anderem vom Maharaja von Mysore.
Nach seiner Rückkehr nach Indien gründete Vivekananda 1897 die Ramakrishna-Mission. Er erwarb das heute als Belur Math bezeichnete Areal in Belur (Haora), das Sitz der Ramakrishna-Mission und des Ramakrishna Math ist. In enger Verbindung mit dem Orden strebt die Organisation danach, die Lehren des Meisters zu verbreiten und durch die Errichtung und Betreuung vieler Schulen, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Clubs und Bibliotheken kulturelle und vor allem soziale Arbeit zu leisten.
Vivekananda reiste erneut durch Nordindien und widmete sich in der Bergeinsamkeit des Himalaya der Meditation. Er starb in Belur Math an Diabetes.
Vivekanandas Ideen basierten auf der Philosophie des Vedanta, insbesondere in der Form, wie sie von Shankara im 8. Jahrhundert auf Grundlage der Upanishaden ausgelegt wurde. Vivekananda sah im Vedanta die Krone aller Religionen, weil er allgemein sei und weil er mit der Evolutionstheorie übereinstimme. In drei Stufen steige die Seele aus der Gebundenheit zur himmlischen Freiheit empor: In der ersten wisse sie nur, dass sie von Gott entfernt sei (dualistische Religion, vgl. Samkhya); in der zweiten erkenne sie die Einheit von Gott und Seele, die sich aber doch unterschieden (Ramanujas Vishishtadvaita). In der höchsten Phase erkenne die Seele die völlige Identität mit Gott (Shankaras Advaita).
Vivekananda lässt alle klassischen Heilswege des Hinduismus gelten: Jnana Yoga (Weg des Wissens), Raja Yoga (Weg des Yoga), Bhakti Yoga (Hingabe an Gott) und Karma-Yoga (Weg der guten Taten). Die Taten (Karma) fasst er jedoch nicht auf rituelle, sondern auf philanthrop-soziale Art auf; sie würden verrichtet, weil Gott oder der Atman in jedem Wesen anwesend sei. Die Bhakti (Hingabe) hingegen zeige sich in Opfern und Liebe. Jnana Yoga dagegen ist der intellektuell-spirituelle Weg zur Erkenntnis. Jeder wähle den Weg, der seiner Mentalität und seinem Bildungsniveau am besten entspreche. Er formuliert zudem ein monistisches Gottesbild.
Er betrachtet es als falsch, die Welt zu vernachlässigen oder zu verachten. Doch obwohl sie einen göttlichen Kern habe, sei sie vergänglich. Der Hinduismus im Sinne eines die Bhakti betonenden Vedanta verdiene es, gegen die materialistische Zivilisation des Westens verteidigt zu werden, vorausgesetzt, dass er seiner sozialen Verpflichtung nachkomme. Die Themen der Bhagavad Gita hätten ihre Aktualität auch in der Gegenwart voll bewahrt. Die von ihm gegründete Ramakrishna-Bewegung will als erste indische Missionsgesellschaft die Vedanta-Lehren auch im Ausland verbreiten. Dies ist nur möglich, da er die Öffnung des vedantischen Heilswegs ausnahmslos für die Allgemeinheit einforderte und somit den exklusiv asketisch-brahmanischen Zugang zum Heilsweg ablehnte. Vivekananda lehnte die absolute Schriftautorität der Veden ab und betonte dagegen die religiöse Erfahrung. Er weitete die zwei Stufen des Wissens zu einer inklusivistischen Theologie der Religionen aus, in der jeder Zugang zu Gott ein Abbild der Wahrheit war und als ein Teil des rechten Wegs im Hinduismus zu verstehen ist: „Der Mensch schreitet nicht von Irrtum zur Wahrheit, sondern von Wahrheit zu Wahrheit, von einer niedrigeren zu höherer Wahrheit.“ Gemäß dieser Lehre entfaltet er seine Sozialethik, die darauf abzielt, dass es nur ein Unendliches geben kann. Weil die Seele ein Teil davon ist, gilt der Grundsatz, dass man seinen Nächsten nicht töten oder verletzen darf. Im Umkehrschluss würde man sich sonst selbst verletzen.
Vivekananda liefert zwei Begründungsfiguren, die seine Vorstellung des Hinduismus als einheitliche, ernstzunehmende Religion stützen. Den allgemeinen und bis in die Gegenwart diskutierten Vorwurf, der Begriff „Hinduismus“ fasse lediglich die zahlreichen religiösen Strömungen Indiens zusammen, kehrt er in eine Stärke des Hinduismus um. Dieser wird in dem Zusammenhang als einende, alles integrierende Kraft, nicht als leerer Überbegriff verstanden. Um diesem Hinduismus noch mehr Autorität einräumen zu können, kommt nun die zweite Begründungsfigur Vivekanandas zum Tragen. Indem er den Kern des Hinduismus und den der Wissenschaft als im Einklang miteinander betrachtet, erschwert er den Versuch, seine Religion als Aberglaube abzutun. Ausgangspunkt hierfür sind die Veden, in denen er Geistesgesetze verkörpert sieht. Der in diesen Geistesgesetzen enthaltene Wahrheitsanspruch, so Vivekananda, spiegelt sich wiederum in den naturwissenschaftlichen Gesetzen wider. Beiden, dem Hinduismus und der Wissenschaft allgemein, sei zudem die Suche nach Einheit gemein. Und in der Tatsache, dass ebendiese Einheit im hier beschriebenen Hinduismus erfahrbar sein soll, liegt demnach eine weitere Stärke dieser Religion. Sie „wird“ zur Erfahrungsreligion und bedient keinen blinden Glauben. Aus diesem Winkel betrachtet richtet sich der wissenschaftliche Anspruch, den Vivekananda an seine Religion knüpft, jedoch gewissermaßen gegen Offenbarungsreligionen, da diese leichter als irrational und als mit Wissenschaft oder Geistesgesetzen inkompatibel abgetan werden können.
Vivekanandas Vorträge, in denen er oft das indische mit dem westlichen Gesellschaftsbild vergleicht, erzielten bei westlichen Zuhörern eine große Wirkung. Indien ist für ihn die Wiege der Spiritualität und religiösen Hingabe sowie der Verwurzelung der Menschen in den wahren (d. h. geistigen) Werten des Lebens, wohingegen der Westen zwar technologisch fortschrittlich, aber letztlich einem seelenlosen Materialismus und Konkurrenzdenken verfallen sei. Im Rahmen rasanter sozio-kultureller und wirtschaftlicher Veränderungen stellte der Bezug zu einem in sich selbst ruhenden spirituell getragenen Indien ein vielversprechendes Kontrastprogramm dar, denn es bot die Möglichkeit einer innerlichen Distanzierung von der eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Grundlegend für Vivekanandas Gesellschaftsbild vom Westen war seine Lektüre Herbert Spencers und dessen Konzept der „gesellschaftlichen Evolution“, ein Vorläufer des modernen Sozialdarwinismus.
Vivekanandas zentrale Themen sind positive Weltsicht und Nächstenliebe. Rabindranath Tagore soll zu seinem französischen Kollegen Romain Rolland gesagt haben: „Wenn Sie Indien verstehen wollen, müssen Sie Vivekananda studieren.“ Derartige Aussagen machen deutlich, wie stark Vivekanandas Hinduismus-Interpretation das Bild Indiens im Westen, aber auch das der verwestlichten Eliten in Indien selbst geprägt hat. Zu seinen Freunden zählte der deutsche Indologe Paul Deussen. Nicht vergessen darf man hierbei allerdings, dass diese Interpretation nicht allein die Lehre des Hinduismus ausmacht. Die innerindische Diskussion hatte diesen Weg, den Vivekananda hier beschreitet, immer als kritisch betrachtet, so z. B. Brahmo Samaj. In diese Kritik fällt ebenfalls, dass sich Vivekananda ebenso auf Rammohan Roy stützt wie auch die westliche Indologie., Illinois.
(Seite „Vivekananda“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 26. Dezember 2014, 19:41 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Vivekananda&oldid=137130856 (Abgerufen: 2. Januar 2015, 11:34 UTC))
Swami Vivekananda (bengalisch: বিবেকানন্দ, Bibekānanda, * 12. Januar 1863 in Kolkata; † 4. Juli 1902 in Haora; bürgerlicher Name: Narendranath Datta) war ein hinduistischer Mönch und Gelehrter. Vivekananda sprach als erster Hindu vor dem Weltparlament der Religionen (World Parliament of Religions) im Jahre 1893 in Chicago.
Vivekananda war der Sohn eines Rechtsanwalts aus Kalkutta (heute: Kolkata). Die Stadt war eines der wichtigsten geistigen Zentren des kolonialen Indiens und er setzte sich schon in seinen Collegejahren ab 1880 mit westlichen Philosophen und Intellektuellen wie Hegel und Herbert Spencer auseinander. Anfangs gehörte er einer hinduistischen Reformbewegung, dem Sadharana-Samaj an, bei dem er jedoch die persönliche religiöse Erfahrung vermisste. Im Alter von 18 Jahren besuchte Narendranath Datta den Mystiker Ramakrishna im Kali-Tempel Dakshineshwar zum ersten Mal. Dieser soll ihn mit Tränen in den Augen empfangen haben. Der an englischen Schulen erzogene und zum Atheismus neigende Narendra blieb jedoch zunächst skeptisch. Ramakrishna gab ihm ganz persönliche Unterweisung und nach und nach überwand er seine inneren Widerstände und wurde zu seinem Lieblingsschüler. Im Jahre 1884 wurde Vivekananda ein Mitglied im Bund der Freimaurer, seine Loge, Anchor and Hope No. 1, ist in Kalkutta ansässig [1]. Nach dem Tod seines Meisters 1886 ging Vivekananda auf religiöse Pilgerreise durch Indien. Er besuchte unter anderem Benares (heute Varanasi), Ayodhya, Mysore und Madras (heute Chennai). 1893 hielt er sich in den USA auf und wurde als ungeladener Gast auf dem Weltparlament der Religionen bei der World’s Columbian Exposition in Chicago nach einem viel umjubelten Auftritt als strahlender Vertreter indischer Religiosität einem breiten Publikum im Westen bekannt. Er bestimmte auf dem Weltparlament der Religionen das erste Mal den Hinduismus, mit all seinen unterschiedlichen Strömungen, als Religion. Seine 13. und letzte Rede auf dem Kongress schloss mit folgenden Worten:
„Wenn das Parlament der Religionen der Welt etwas gezeigt hat, dann ist es Folgendes: Es hat der Welt bewiesen, dass Heiligkeit, Reinheit und Mildtätigkeit nicht ausschließliche Besitztümer irgendeiner Kirche in der Welt sind und dass jedes System Männer und Frauen von erhabenstem Charakter erzeugt hat. Angesichts dieser Tatsachen bemitleide ich von ganzem Herzen denjenigen, der vom ausschließlichen Überleben seiner eigenen Religion träumt und von der Zerstörung der anderen; und ich zeige ihm, dass auf dem Banner jeder Religion trotz Widerstandes bald geschrieben stehen wird: „Hilfe und nicht Kampf“, „Gegenseitiges Durchdringen und nicht Zerstörung“, „Harmonie und Frieden und nicht Widerspruch“.“
– Übersetzung von Jyotishman Dam aus Nikhilananda, Swami: Vivekananda, A Biography, Calcutta 1987
Seine Reden fanden in Amerika so großen Anklang, dass er in New York die „Vedanta Society“ gründete. Finanziert wurden seine Reisen unter anderem vom Maharaja von Mysore.
Nach seiner Rückkehr nach Indien gründete Vivekananda 1897 die Ramakrishna-Mission. Er erwarb das heute als Belur Math bezeichnete Areal in Belur (Haora), das Sitz der Ramakrishna-Mission und des Ramakrishna Math ist. In enger Verbindung mit dem Orden strebt die Organisation danach, die Lehren des Meisters zu verbreiten und durch die Errichtung und Betreuung vieler Schulen, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Clubs und Bibliotheken kulturelle und vor allem soziale Arbeit zu leisten.
Vivekananda reiste erneut durch Nordindien und widmete sich in der Bergeinsamkeit des Himalaya der Meditation. Er starb in Belur Math an Diabetes.
Vivekanandas Ideen basierten auf der Philosophie des Vedanta, insbesondere in der Form, wie sie von Shankara im 8. Jahrhundert auf Grundlage der Upanishaden ausgelegt wurde. Vivekananda sah im Vedanta die Krone aller Religionen, weil er allgemein sei und weil er mit der Evolutionstheorie übereinstimme. In drei Stufen steige die Seele aus der Gebundenheit zur himmlischen Freiheit empor: In der ersten wisse sie nur, dass sie von Gott entfernt sei (dualistische Religion, vgl. Samkhya); in der zweiten erkenne sie die Einheit von Gott und Seele, die sich aber doch unterschieden (Ramanujas Vishishtadvaita). In der höchsten Phase erkenne die Seele die völlige Identität mit Gott (Shankaras Advaita).
Vivekananda lässt alle klassischen Heilswege des Hinduismus gelten: Jnana Yoga (Weg des Wissens), Raja Yoga (Weg des Yoga), Bhakti Yoga (Hingabe an Gott) und Karma-Yoga (Weg der guten Taten). Die Taten (Karma) fasst er jedoch nicht auf rituelle, sondern auf philanthrop-soziale Art auf; sie würden verrichtet, weil Gott oder der Atman in jedem Wesen anwesend sei. Die Bhakti (Hingabe) hingegen zeige sich in Opfern und Liebe. Jnana Yoga dagegen ist der intellektuell-spirituelle Weg zur Erkenntnis. Jeder wähle den Weg, der seiner Mentalität und seinem Bildungsniveau am besten entspreche. Er formuliert zudem ein monistisches Gottesbild.
Er betrachtet es als falsch, die Welt zu vernachlässigen oder zu verachten. Doch obwohl sie einen göttlichen Kern habe, sei sie vergänglich. Der Hinduismus im Sinne eines die Bhakti betonenden Vedanta verdiene es, gegen die materialistische Zivilisation des Westens verteidigt zu werden, vorausgesetzt, dass er seiner sozialen Verpflichtung nachkomme. Die Themen der Bhagavad Gita hätten ihre Aktualität auch in der Gegenwart voll bewahrt. Die von ihm gegründete Ramakrishna-Bewegung will als erste indische Missionsgesellschaft die Vedanta-Lehren auch im Ausland verbreiten. Dies ist nur möglich, da er die Öffnung des vedantischen Heilswegs ausnahmslos für die Allgemeinheit einforderte und somit den exklusiv asketisch-brahmanischen Zugang zum Heilsweg ablehnte. Vivekananda lehnte die absolute Schriftautorität der Veden ab und betonte dagegen die religiöse Erfahrung. Er weitete die zwei Stufen des Wissens zu einer inklusivistischen Theologie der Religionen aus, in der jeder Zugang zu Gott ein Abbild der Wahrheit war und als ein Teil des rechten Wegs im Hinduismus zu verstehen ist: „Der Mensch schreitet nicht von Irrtum zur Wahrheit, sondern von Wahrheit zu Wahrheit, von einer niedrigeren zu höherer Wahrheit.“ Gemäß dieser Lehre entfaltet er seine Sozialethik, die darauf abzielt, dass es nur ein Unendliches geben kann. Weil die Seele ein Teil davon ist, gilt der Grundsatz, dass man seinen Nächsten nicht töten oder verletzen darf. Im Umkehrschluss würde man sich sonst selbst verletzen.
Vivekananda liefert zwei Begründungsfiguren, die seine Vorstellung des Hinduismus als einheitliche, ernstzunehmende Religion stützen. Den allgemeinen und bis in die Gegenwart diskutierten Vorwurf, der Begriff „Hinduismus“ fasse lediglich die zahlreichen religiösen Strömungen Indiens zusammen, kehrt er in eine Stärke des Hinduismus um. Dieser wird in dem Zusammenhang als einende, alles integrierende Kraft, nicht als leerer Überbegriff verstanden. Um diesem Hinduismus noch mehr Autorität einräumen zu können, kommt nun die zweite Begründungsfigur Vivekanandas zum Tragen. Indem er den Kern des Hinduismus und den der Wissenschaft als im Einklang miteinander betrachtet, erschwert er den Versuch, seine Religion als Aberglaube abzutun. Ausgangspunkt hierfür sind die Veden, in denen er Geistesgesetze verkörpert sieht. Der in diesen Geistesgesetzen enthaltene Wahrheitsanspruch, so Vivekananda, spiegelt sich wiederum in den naturwissenschaftlichen Gesetzen wider. Beiden, dem Hinduismus und der Wissenschaft allgemein, sei zudem die Suche nach Einheit gemein. Und in der Tatsache, dass ebendiese Einheit im hier beschriebenen Hinduismus erfahrbar sein soll, liegt demnach eine weitere Stärke dieser Religion. Sie „wird“ zur Erfahrungsreligion und bedient keinen blinden Glauben. Aus diesem Winkel betrachtet richtet sich der wissenschaftliche Anspruch, den Vivekananda an seine Religion knüpft, jedoch gewissermaßen gegen Offenbarungsreligionen, da diese leichter als irrational und als mit Wissenschaft oder Geistesgesetzen inkompatibel abgetan werden können.
Vivekanandas Vorträge, in denen er oft das indische mit dem westlichen Gesellschaftsbild vergleicht, erzielten bei westlichen Zuhörern eine große Wirkung. Indien ist für ihn die Wiege der Spiritualität und religiösen Hingabe sowie der Verwurzelung der Menschen in den wahren (d. h. geistigen) Werten des Lebens, wohingegen der Westen zwar technologisch fortschrittlich, aber letztlich einem seelenlosen Materialismus und Konkurrenzdenken verfallen sei. Im Rahmen rasanter sozio-kultureller und wirtschaftlicher Veränderungen stellte der Bezug zu einem in sich selbst ruhenden spirituell getragenen Indien ein vielversprechendes Kontrastprogramm dar, denn es bot die Möglichkeit einer innerlichen Distanzierung von der eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Grundlegend für Vivekanandas Gesellschaftsbild vom Westen war seine Lektüre Herbert Spencers und dessen Konzept der „gesellschaftlichen Evolution“, ein Vorläufer des modernen Sozialdarwinismus.
Vivekanandas zentrale Themen sind positive Weltsicht und Nächstenliebe. Rabindranath Tagore soll zu seinem französischen Kollegen Romain Rolland gesagt haben: „Wenn Sie Indien verstehen wollen, müssen Sie Vivekananda studieren.“ Derartige Aussagen machen deutlich, wie stark Vivekanandas Hinduismus-Interpretation das Bild Indiens im Westen, aber auch das der verwestlichten Eliten in Indien selbst geprägt hat. Zu seinen Freunden zählte der deutsche Indologe Paul Deussen. Nicht vergessen darf man hierbei allerdings, dass diese Interpretation nicht allein die Lehre des Hinduismus ausmacht. Die innerindische Diskussion hatte diesen Weg, den Vivekananda hier beschreitet, immer als kritisch betrachtet, so z. B. Brahmo Samaj. In diese Kritik fällt ebenfalls, dass sich Vivekananda ebenso auf Rammohan Roy stützt wie auch die westliche Indologie., Illinois.
(Seite „Vivekananda“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 26. Dezember 2014, 19:41 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Vivekananda&oldid=137130856 (Abgerufen: 2. Januar 2015, 11:34 UTC))