Entwicklung als Passion

Über Daimonotechnik und Wille

Über Daimonotechnik und Wille

Klappentext:

Was ist das Geheimnis unseres geistig-seelischen Wachstums? Wie lernen wir, und wie können wir unsere innersten Motivationen nutzen, um uns ganzheitlich weiterzuentwickeln, ob nun in der Spiritualität, bei unseren Freizeitbeschäftigungen oder einfach in unserem Alltag? Diesen Fragen geht Tom Amarque in seinem neuen Buch „Entwicklung als Passion“ nach. Er legt die psychischen und sozialen Kräfte offen, durch die wir im Alltag nicht nur unsere innere Bestimmung finden und ihr folgen können, sondern durch die wir uns auch effektiv weiterentwickeln und als Menschen wachsen. Amarque zeigt, dass Entwicklung und Begeisterung Hand in Hand gehen.

Darüber hinaus beobachtet Amarque in „Entwicklung als Passion“ auch die Funktion der Spiritualität für unsere Zeit und unsere Gesellschaft, und welche Rolle sie dabei spielt, dem Einzelnen zu ermöglichen, seine Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen und die eigene Begeisterung zu steigern.

 

 

Aus dem Buch:

1. Was ist Psyche und Bewusstsein?

Wie entwickeln wir uns, und wie können wir dieses Wissen nutzen, um uns intentionell weiter zu entwickeln? Wie können wir also die Mechanismen der Psyche, die uns zu dem gemacht haben, wer wir sind, nutzen, um gezielt die nächsten Stufen der Entwicklung zu erreichen? Um Schritt für Schritt diese Mechanismen herauszukristallisieren, wie wir die Kräfte, durch die wir uns entwickeln, zu unserem Vorteil nutzen können, müssen wir uns unserer Psyche und unserem Bewusstseins selbst zuwenden. Genau hier liegt die große Schatztruhe unserer Entwicklung verborgen.
1.1. Psyche als Prozess
Jede Bewusstseinstechnik oder Daimonotechnik, wie ich sie später nennen werde – nicht ganz unabsichtlich so genannt im Kontext von Peter Sloterdijks kürzlich eingeführtem anthropotechnischen Begriffskonzept – fängt mit dem Verständnis und der Erfahrung der eigenen Psyche an. Doch während Sloterdijk eine anthropologische Perspektive des Menschen wählte, die vor allem in die Vergangenheit blickt, will ich einen Blick in die Zukunft wagen und schauen, was passiert, wenn das Individuum beginnt, Bewusstseinstechnologien zu entwickeln und umzusetzen, und sich selbst und seine Psyche zu erschaffen, d.h. zu gestalten und zu entwickeln. Sloterdijks zwar anthropologisch großartiger, vom Standpunkt der Entwicklungspsychologie jedoch etwas kurzsichtiger Analyse möchte ich daher eine Entwicklungsperspektive anheimstellen.
Daimonotechnik als Begriff impliziert dabei die Vorstellung, dass das Bewusstsein über eine Technik verfügt, sich selbst und seine Psyche zu steuern. Doch bevor man seine eigene Psyche steuern kann, muss man zumindest einigermaßen verstehen, was es mit der Psyche und dem Bewusstsein auf sich hat. Wir brauchen dabei nicht lange zu suchen, um auf eines der größten Probleme zu stoßen, die mit den Vorstellungen über die Psyche und das Bewusstsein einhergehen. Einem Problem, das auch in der gegenwärtigen Spiritualität – selbst wenn sie einen ernsthaften, über die reine Esoterik hinausgehenden, Anspruch verfolgt – zu vielen Missverständnissen führt.
Was genau wir auch immer unter den Begriffen ‚Psyche‘ und ‚Bewusstsein‘ verstehen, so liegt ein häufiges Missverständnis stets darin anzunehmen, die Psyche oder das Bewusstsein sei ein Ding, ein strukturelles Etwas, im Gegensatz zu einem fließenden Prozess. Wie der Systemtheoretiker und Psychologe Allan Combs beispielsweise erst kürzlich argumentiert hat, gibt es so etwas wie Bewusstsein nämlich nicht, zumindest nicht per se. Bewusstsein als Begriff ist die Nominalisierung eines psychischen Prozesses, ebenso wie etwa ein ‚Wasserfall‘ die Nominalisierung des Prozesses von einer Klippe herabströmenden Wassers ist. ‚Bewusstsein‘ ist also eine sprachliche Verdinglichung von etwas, was psychisch geschieht – von einem psychischen Prozess, der sich in Erfahrung verdichtet, oder eben Bewusstseinsprozess – eine Verdinglichung, die nichts mit dem, was wir psychisch erfahren, gemein hat. Mit anderen Worten: ‚Bewusstsein‘ ist ein konsensueller Begriff, der die Kommunikation erleichtert. Das Problem dabei: Ist man sich dessen nicht bewusst, beginnt man, über etwas zu reden, was so, zumindest in der Form, eigentlich gar nicht da ist.
Dasselbe gilt für die Psyche. Ich sage ‚die Psyche‘ und erzeuge damit eine Verdinglichung für etwas, das sich eher durch in der Zeit fließende, prozessuale Eigenschaften auszeichnet. In der Psychologie ist dieser Vorgang, aus einem Prozess ein Ding zu machen, auch als ‚Nominalisierung‘ bekannt. Es ist ein Vorgang, dem z.B. die beiden Psychologen Richard Bandler und John Grinder viel Aufmerksamkeit widmeten. In dem von ihnen entwickelten NLP – dem neurolinguistischen Programmieren – bezeichnet der Begriff ‚Nominalisierung‘ eine kognitive Verzerrungsleistung, bei der ein „Prozesswort oder Verb in der Tiefenstruktur als Ereigniswort oder Substantiv in der Oberflächenstruktur in Erscheinung tritt”. Das heißt, wir machen aus dem Prozess ein Ding, das sich unserer Kontrolle entzieht. Ein klassisches Beispiel für eine Nominalisierung wäre die Aussage ‚Ich habe Angst!‘. Die Nominalisierung (‚Angst‘) führt dazu, das wir aus dem psychisches Prozess des ‚sich-fürchtens‘ ein Ding machen, auf das wir keinen Einfluss mehr haben. Der therapeutische Ansatz des NLP besteht dann u.a. darin, solche Nominalisierungen aufzulösen, sodass man auf die Entscheidung und den Prozess des sich-fürchtens wieder Einfluss nehmen kann.
Im Alltag nutzen wir, vor allem in der Kommunikation über psychologische Inhalte, sehr viele solcher Nominalisierungen, besonders wenn wir von ‚Ich‘, ‚Selbst‘, ‚Entwicklungsstufen‘, ‚Bewusstsein‘, ‚Psyche‘, ‚Zustände‘, ‚Neurosen‘, ‚Widerstände‘, ‚Konditionierung‘, ‚Angst‘, ‚Wut‘, ‚Trauer‘ oder ‚Freude‘ sprechen. In jedem Fall nehmen wir hier eine strukturelle, verdinglichte Perspektive zu Phänomenen ein, die sich eigentlich durch prozessuale Eigenschaften auszeichnen.
Es ist dabei erwähnenswert, dass obwohl in der Psychologie die geistigen Phänomene oft in Form von Nominalisierungen und Strukturen präsentiert werden, den meisten Forschern und Psychologen doch klar ist, dass sie damit lediglich von außen betrachtete Prozesse beobachten. Jean Piaget beispielsweise verstand seine Entwicklungsstufen als Prozesse, ebenso wie Lawrence Kohlberg seine Theorie über moralische Entwicklung eher als Prozesse und weniger als Strukturen begriff. Bevor Sigmund Freud in eine strukturelle Sprache verfiel, betonte er ebenso die kognitiven Prozesse, die in Form von neurotischen Symptomen und Traumzusammenhängen in die Gesamterfahrung des Individuums einfließen. Und wie der Strukturalist und Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Balzer dementsprechend herausfand, handelt es sich bei der Nominalisierung ‚Unterbewusstsein‘ um eines jener strukturellen Konzepte, für die es keinerlei Anwendungsmöglichkeiten gibt. Tatsächlich hat aber auch die Systemtheorie viele Beiträge dafür geliefert, das Verständnis von dem Prozessaspekt von Systemen wie dem Bewusstsein zu verstehen. Ich werde darauf zu sprechen kommen.
Es ist dabei wichtig zu berücksichtigen, dass das Verdinglichen von Prozessen evolutionär von ganz wichtiger Bedeutung ist – für unsere Ahnen wie auch für jedes Kleinkind, das heute beginnt, sich mit der Welt und Sprache auseinanderzusetzen. Auch für uns Erwachsene sind solche Nominalisierungen im Alltag sehr wichtig: Sie erleichtern die Kommunikation, etwa wenn wir beginnen, über ‚Freiheit‘ zu diskutieren, oder über die ‚Ursache‘ unserer ‚Trauer‘. Doch sprechen wir über psychologische und spirituelle Angelegenheiten – wie jeder von uns das in dieser postmodernen Zeit gerne und viel tut – so führen diese Verdinglichungen, zumindest wenn wir dabei vergessen, was eigentlich verdinglicht wird, zu vielen Missverständnissen und Problemen. Insofern beabsichtige ich in diesem Buch auch, der Spiritualität mit ihrem Hang zu strukturellen Beschreibungen – sei es nun ‚kosmisches Bewusstsein‘, ‚Non-Dualität‘ oder ‚Satori‘ – eine Prozessperspektive zur Seite zu stellen. Dies nicht, um die strukturelle Perspektive zu widerlegen oder abzusetzen, sondern um sie um den Prozess- und Erfahrungsaspekt zu erweitern. Dies soll natürlich dazu dienen, dass es dem spirituell arbeitenden Individuum leichter fällt, sein eigenes ‚Bewusstsein‘, also jene Bewusstseinsprozesse und Erfahrungen, die zu dem führen, was wir unsere Alltagserfahrung nennen, zu steuern.
Die Gesamterfahrung von Innenwelt und Außenwelt
Sprechen wir nun über unsere psychischen Prozesse, so können wir dies nicht tun, ohne auch gleichzeitig über unsere Moment-zu-Moment-Erfahrung zu sprechen, die wir im Alltag haben. Unsere Erfahrung wird in hohem Maße von unseren psychischen Prozessen vorstrukturiert und erzeugt, und dabei übersehen wir manchmal, bis zu welchem Ausmaß das eigentlich geschieht.
In der Regel haben wir keine Probleme damit, unsere psychische Erfahrung zu identifizieren, wenn wir uns unserer psychischen Innenwelt, also unseren Gedanken und Vorstellungen, unseren Gefühlen und Emotionen, kurz, unserer Subjektivität zuwenden. Wenn wir im Alltag über unsere Psyche und unser Bewusstsein sprechen, meinen wir im Wesentlichen unsere Innenwelt. Doch tatsächlich formen unsere psychischen Prozesse auch in großem Umfange das, was wir unsere Außenwelterfahrung nennen. Nun haben wir zwar alle gelernt, klar zwischen unserer Innen- und unserer Außenwelt zu unterscheiden, doch was bei diesem Lernen häufig verloren geht, ist die Bewusstheit darüber, dass wir die Unterscheidung zwischen Innen und Außen tatsächlich einmal gelernt haben. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat beispielsweise zeigen können, wann genau ein Kleinkind die Unterscheidung zwischen Innen und Außen erzeugt; vorher verarbeitet es nur einen ungebrochenen Strom seiner Erfahrung, ohne die Erfahrung einer Innen- oder Außenwelt zuzuordnen.
Außenwelterfahrung ist dabei natürlich etwas ganz anderes als die Außenwelt. Es wäre beispielsweise absurd anzunehmen, dass Sie als Leser in irgendeiner anderen Weise als der, das vorliegende Buch tatsächlich gekauft zu haben, es zum Teil Ihrer Erfahrung gemacht haben. Doch vergegenwärtigen Sie sich einmal all der psychischen Entscheidungen, Unterscheidungen und Erfahrungen, die zu dem Kauf dieses Buches geführt haben; Sie könnten den kognitiven Pfad dieser vergangenen Erfahrung – wenn sie wollten – bis in ihre Kindheit zurückverfolgen. Irgendwann in Ihrer frühen Kindheit haben Sie gelernt, ein bestimmtes Objekt von einem anderen zu unterscheiden und es mit der Zeichenfolge ‚B-U-C-H‘ zu benennen, und Sie haben erfahren, dass man mit so einem Buch ganz fantastische Dinge tun kann. Der wesentliche Punkt ist, und die Psychologie bestätigt diese Tatsache, dass Sie irgendwann einmal gelernt haben, was ein Buch, ein Tisch oder ein Auto ist. Solange Sie es nicht lernen, solange Sie diese Objekte kognitiv nicht unterscheiden können, solange können Sie sie auch nicht benutzen oder genauer beobachten. Ein Säugling mag zufällig eine Seite dieses Buches herausreißen und von der Sensation des reißenden Geräusches, der kuriosen Verdopplung des weißen Etwas (was es später einmal ‚Papier‘ nennen wird) und seinen scharfen Kanten beeindruckt sein. Es weiß aber nicht, dass es ein Buch in der Hand hält, wozu es dient, noch kann es den Inhalt studieren. Der Säugling muss erst lernen, was ein Buch ist und wozu es dient.
Unsere Außenwelterfahrung besteht nun aus mehr als nur einem Buch. Wir erfahren tagtäglich Menschen unterschiedlichsten Aussehens und Charakters, Objekte unterschiedlichster Farbe, Form und Funktion, wir erfahren unterschiedlichste Symbole, die auf die vielfältigsten Dinge zeigen, wir erfahren Sprache und Bedeutungen. Aus alle dem erzeugen wir die große Symphonie unserer Außenwelterfahrung, und unsere Psyche ist zu einem großen Umfange stark an der Erschaffung dieser Außenwelterfahrung beteiligt. Was wir von der Welt erfahren, erfahren wir, weil uns unsere Psyche dazu bemächtigt. Was nun die Übereinstimmung von der tatsächlichen Außenwelt und unserer Außenwelterfahrung angeht, ist dies eins der spannendsten Themen überhaupt: Wie kommt es etwa, dass wir uns so gut auf die Übereinstimmung von unserer Erfahrung und der Außenwelt an sich verlassen können, und das Buch dort vorfinden, wo wir es hingelegt haben? Was genau geschieht, wenn diese Übereinstimmung teilweise verloren geht, wie etwa bei der Schizophrenie, bei der der Mensch Personen oder Dinge sieht, die gar nicht da sind, oder Objekte mit Eigenschaften ausstattet, die es gar nicht hat, wie etwa sprechende Steckdosen?
Auf der anderen Seite sind wir, auch wenn wir nicht schizophren sind, alle so etwas wie einer kollektiven Halluzination aufgesessen, nämlich dem Glauben, unsere Sinne würden die Welt eins zu eins widerspiegeln und unsere Wahrnehmung zeigt die Dinge eben so, wie sie sind. Der amerikanische Philosoph Ken Wilber nennt diesen Trugschluss den Mythos des Gegebenen. Als psychische Beobachter können wir aber den Raum der Psyche nicht verlassen, und wir kennen alle die Gefahr und wissen, was geschieht, wenn wir uns dieses Trugschlusses nicht bewusst sind und plötzlich mit Anderen – im größeren oder kleineren Umfang – in eine Auseinandersetzung über die ‚Ist-heiten‘ dieser Welt geraten: Ob dieses Buch oder jener Film gut ‚ist‘ oder nicht, ob der spanische Stierkampf oder Umweltschutz an sich schlecht und verurteilungswürdig ‚ist‘ oder nicht, ob der eigene finanzielle Erfolg oder die eigene Krankheit an sich gut oder schlecht ‚ist‘ usw. Der Nutzen, den diese durchaus postmoderne Einsicht an die Beobachterabhängigkeit und Subjektivität der Welterfahrung mit sich bringt, liegt deshalb in einer erhöhten kommunikativen Sensibilität der Welterfahrung des anderen gegenüber.
Der Punkt ist, wir können unsere Psyche bzw. unsere psychischen Prozesse nicht von unserer Erfahrung trennen, rechnen wir diese Erfahrung nun Innen oder Außen zu. Diese Tatsache, kombiniert mit unserem Drang, Prozesse zu verdinglichen, führte übrigens den Psychologen William James dazu, überhaupt nicht mehr von Psyche und Bewusstsein zu sprechen, sondern nur noch von ‚Erfahrung‘. Wenn ich also im Folgenden von Psyche spreche, und ich schließe mich da James an, meine ich die Gesamtheit und den Gesamtzusammenhang aller Erfahrung, wobei diese Erfahrung unsere Gedanken, Vorstellungen, Zustände, Träume, Emotionen oder Gefühle (Achtung: Nominalisierungen!) ebenso miteinschließt wie die Beobachtung der ‚äußeren‘ Objekte. Überhaupt kann man den Prozessaspekt der Erfahrung – und damit der Psyche – nicht überbetonen. Unsere Psyche, unser Bewusstsein und unsere Erfahrung pulsieren in und mit der Zeit (Achtung: Nominalisierung!), und erzeugt sich von Moment zu Moment selbst. Wie genau sie dies tut, wollen wir weiter unten untersuchen. Zunächst aber wollen wir einen genaueren Blick auf den Strom unserer Erfahrung selbst werfen.

Über Daimonotechnik und Wille

Klappentext:

Was ist das Geheimnis unseres geistig-seelischen Wachstums? Wie lernen wir, und wie können wir unsere innersten Motivationen nutzen, um uns ganzheitlich weiterzuentwickeln, ob nun in der Spiritualität, bei unseren Freizeitbeschäftigungen oder einfach in unserem Alltag? Diesen Fragen geht Tom Amarque in seinem neuen Buch „Entwicklung als Passion“ nach. Er legt die psychischen und sozialen Kräfte offen, durch die wir im Alltag nicht nur unsere innere Bestimmung finden und ihr folgen können, sondern durch die wir uns auch effektiv weiterentwickeln und als Menschen wachsen. Amarque zeigt, dass Entwicklung und Begeisterung Hand in Hand gehen.

Darüber hinaus beobachtet Amarque in „Entwicklung als Passion“ auch die Funktion der Spiritualität für unsere Zeit und unsere Gesellschaft, und welche Rolle sie dabei spielt, dem Einzelnen zu ermöglichen, seine Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen und die eigene Begeisterung zu steigern.

 

 

Aus dem Buch:

1. Was ist Psyche und Bewusstsein?

Wie entwickeln wir uns, und wie können wir dieses Wissen nutzen, um uns intentionell weiter zu entwickeln? Wie können wir also die Mechanismen der Psyche, die uns zu dem gemacht haben, wer wir sind, nutzen, um gezielt die nächsten Stufen der Entwicklung zu erreichen? Um Schritt für Schritt diese Mechanismen herauszukristallisieren, wie wir die Kräfte, durch die wir uns entwickeln, zu unserem Vorteil nutzen können, müssen wir uns unserer Psyche und unserem Bewusstseins selbst zuwenden. Genau hier liegt die große Schatztruhe unserer Entwicklung verborgen.
1.1. Psyche als Prozess
Jede Bewusstseinstechnik oder Daimonotechnik, wie ich sie später nennen werde – nicht ganz unabsichtlich so genannt im Kontext von Peter Sloterdijks kürzlich eingeführtem anthropotechnischen Begriffskonzept – fängt mit dem Verständnis und der Erfahrung der eigenen Psyche an. Doch während Sloterdijk eine anthropologische Perspektive des Menschen wählte, die vor allem in die Vergangenheit blickt, will ich einen Blick in die Zukunft wagen und schauen, was passiert, wenn das Individuum beginnt, Bewusstseinstechnologien zu entwickeln und umzusetzen, und sich selbst und seine Psyche zu erschaffen, d.h. zu gestalten und zu entwickeln. Sloterdijks zwar anthropologisch großartiger, vom Standpunkt der Entwicklungspsychologie jedoch etwas kurzsichtiger Analyse möchte ich daher eine Entwicklungsperspektive anheimstellen.
Daimonotechnik als Begriff impliziert dabei die Vorstellung, dass das Bewusstsein über eine Technik verfügt, sich selbst und seine Psyche zu steuern. Doch bevor man seine eigene Psyche steuern kann, muss man zumindest einigermaßen verstehen, was es mit der Psyche und dem Bewusstsein auf sich hat. Wir brauchen dabei nicht lange zu suchen, um auf eines der größten Probleme zu stoßen, die mit den Vorstellungen über die Psyche und das Bewusstsein einhergehen. Einem Problem, das auch in der gegenwärtigen Spiritualität – selbst wenn sie einen ernsthaften, über die reine Esoterik hinausgehenden, Anspruch verfolgt – zu vielen Missverständnissen führt.
Was genau wir auch immer unter den Begriffen ‚Psyche‘ und ‚Bewusstsein‘ verstehen, so liegt ein häufiges Missverständnis stets darin anzunehmen, die Psyche oder das Bewusstsein sei ein Ding, ein strukturelles Etwas, im Gegensatz zu einem fließenden Prozess. Wie der Systemtheoretiker und Psychologe Allan Combs beispielsweise erst kürzlich argumentiert hat, gibt es so etwas wie Bewusstsein nämlich nicht, zumindest nicht per se. Bewusstsein als Begriff ist die Nominalisierung eines psychischen Prozesses, ebenso wie etwa ein ‚Wasserfall‘ die Nominalisierung des Prozesses von einer Klippe herabströmenden Wassers ist. ‚Bewusstsein‘ ist also eine sprachliche Verdinglichung von etwas, was psychisch geschieht – von einem psychischen Prozess, der sich in Erfahrung verdichtet, oder eben Bewusstseinsprozess – eine Verdinglichung, die nichts mit dem, was wir psychisch erfahren, gemein hat. Mit anderen Worten: ‚Bewusstsein‘ ist ein konsensueller Begriff, der die Kommunikation erleichtert. Das Problem dabei: Ist man sich dessen nicht bewusst, beginnt man, über etwas zu reden, was so, zumindest in der Form, eigentlich gar nicht da ist.
Dasselbe gilt für die Psyche. Ich sage ‚die Psyche‘ und erzeuge damit eine Verdinglichung für etwas, das sich eher durch in der Zeit fließende, prozessuale Eigenschaften auszeichnet. In der Psychologie ist dieser Vorgang, aus einem Prozess ein Ding zu machen, auch als ‚Nominalisierung‘ bekannt. Es ist ein Vorgang, dem z.B. die beiden Psychologen Richard Bandler und John Grinder viel Aufmerksamkeit widmeten. In dem von ihnen entwickelten NLP – dem neurolinguistischen Programmieren – bezeichnet der Begriff ‚Nominalisierung‘ eine kognitive Verzerrungsleistung, bei der ein „Prozesswort oder Verb in der Tiefenstruktur als Ereigniswort oder Substantiv in der Oberflächenstruktur in Erscheinung tritt”. Das heißt, wir machen aus dem Prozess ein Ding, das sich unserer Kontrolle entzieht. Ein klassisches Beispiel für eine Nominalisierung wäre die Aussage ‚Ich habe Angst!‘. Die Nominalisierung (‚Angst‘) führt dazu, das wir aus dem psychisches Prozess des ‚sich-fürchtens‘ ein Ding machen, auf das wir keinen Einfluss mehr haben. Der therapeutische Ansatz des NLP besteht dann u.a. darin, solche Nominalisierungen aufzulösen, sodass man auf die Entscheidung und den Prozess des sich-fürchtens wieder Einfluss nehmen kann.
Im Alltag nutzen wir, vor allem in der Kommunikation über psychologische Inhalte, sehr viele solcher Nominalisierungen, besonders wenn wir von ‚Ich‘, ‚Selbst‘, ‚Entwicklungsstufen‘, ‚Bewusstsein‘, ‚Psyche‘, ‚Zustände‘, ‚Neurosen‘, ‚Widerstände‘, ‚Konditionierung‘, ‚Angst‘, ‚Wut‘, ‚Trauer‘ oder ‚Freude‘ sprechen. In jedem Fall nehmen wir hier eine strukturelle, verdinglichte Perspektive zu Phänomenen ein, die sich eigentlich durch prozessuale Eigenschaften auszeichnen.
Es ist dabei erwähnenswert, dass obwohl in der Psychologie die geistigen Phänomene oft in Form von Nominalisierungen und Strukturen präsentiert werden, den meisten Forschern und Psychologen doch klar ist, dass sie damit lediglich von außen betrachtete Prozesse beobachten. Jean Piaget beispielsweise verstand seine Entwicklungsstufen als Prozesse, ebenso wie Lawrence Kohlberg seine Theorie über moralische Entwicklung eher als Prozesse und weniger als Strukturen begriff. Bevor Sigmund Freud in eine strukturelle Sprache verfiel, betonte er ebenso die kognitiven Prozesse, die in Form von neurotischen Symptomen und Traumzusammenhängen in die Gesamterfahrung des Individuums einfließen. Und wie der Strukturalist und Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Balzer dementsprechend herausfand, handelt es sich bei der Nominalisierung ‚Unterbewusstsein‘ um eines jener strukturellen Konzepte, für die es keinerlei Anwendungsmöglichkeiten gibt. Tatsächlich hat aber auch die Systemtheorie viele Beiträge dafür geliefert, das Verständnis von dem Prozessaspekt von Systemen wie dem Bewusstsein zu verstehen. Ich werde darauf zu sprechen kommen.
Es ist dabei wichtig zu berücksichtigen, dass das Verdinglichen von Prozessen evolutionär von ganz wichtiger Bedeutung ist – für unsere Ahnen wie auch für jedes Kleinkind, das heute beginnt, sich mit der Welt und Sprache auseinanderzusetzen. Auch für uns Erwachsene sind solche Nominalisierungen im Alltag sehr wichtig: Sie erleichtern die Kommunikation, etwa wenn wir beginnen, über ‚Freiheit‘ zu diskutieren, oder über die ‚Ursache‘ unserer ‚Trauer‘. Doch sprechen wir über psychologische und spirituelle Angelegenheiten – wie jeder von uns das in dieser postmodernen Zeit gerne und viel tut – so führen diese Verdinglichungen, zumindest wenn wir dabei vergessen, was eigentlich verdinglicht wird, zu vielen Missverständnissen und Problemen. Insofern beabsichtige ich in diesem Buch auch, der Spiritualität mit ihrem Hang zu strukturellen Beschreibungen – sei es nun ‚kosmisches Bewusstsein‘, ‚Non-Dualität‘ oder ‚Satori‘ – eine Prozessperspektive zur Seite zu stellen. Dies nicht, um die strukturelle Perspektive zu widerlegen oder abzusetzen, sondern um sie um den Prozess- und Erfahrungsaspekt zu erweitern. Dies soll natürlich dazu dienen, dass es dem spirituell arbeitenden Individuum leichter fällt, sein eigenes ‚Bewusstsein‘, also jene Bewusstseinsprozesse und Erfahrungen, die zu dem führen, was wir unsere Alltagserfahrung nennen, zu steuern.
Die Gesamterfahrung von Innenwelt und Außenwelt
Sprechen wir nun über unsere psychischen Prozesse, so können wir dies nicht tun, ohne auch gleichzeitig über unsere Moment-zu-Moment-Erfahrung zu sprechen, die wir im Alltag haben. Unsere Erfahrung wird in hohem Maße von unseren psychischen Prozessen vorstrukturiert und erzeugt, und dabei übersehen wir manchmal, bis zu welchem Ausmaß das eigentlich geschieht.
In der Regel haben wir keine Probleme damit, unsere psychische Erfahrung zu identifizieren, wenn wir uns unserer psychischen Innenwelt, also unseren Gedanken und Vorstellungen, unseren Gefühlen und Emotionen, kurz, unserer Subjektivität zuwenden. Wenn wir im Alltag über unsere Psyche und unser Bewusstsein sprechen, meinen wir im Wesentlichen unsere Innenwelt. Doch tatsächlich formen unsere psychischen Prozesse auch in großem Umfange das, was wir unsere Außenwelterfahrung nennen. Nun haben wir zwar alle gelernt, klar zwischen unserer Innen- und unserer Außenwelt zu unterscheiden, doch was bei diesem Lernen häufig verloren geht, ist die Bewusstheit darüber, dass wir die Unterscheidung zwischen Innen und Außen tatsächlich einmal gelernt haben. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat beispielsweise zeigen können, wann genau ein Kleinkind die Unterscheidung zwischen Innen und Außen erzeugt; vorher verarbeitet es nur einen ungebrochenen Strom seiner Erfahrung, ohne die Erfahrung einer Innen- oder Außenwelt zuzuordnen.
Außenwelterfahrung ist dabei natürlich etwas ganz anderes als die Außenwelt. Es wäre beispielsweise absurd anzunehmen, dass Sie als Leser in irgendeiner anderen Weise als der, das vorliegende Buch tatsächlich gekauft zu haben, es zum Teil Ihrer Erfahrung gemacht haben. Doch vergegenwärtigen Sie sich einmal all der psychischen Entscheidungen, Unterscheidungen und Erfahrungen, die zu dem Kauf dieses Buches geführt haben; Sie könnten den kognitiven Pfad dieser vergangenen Erfahrung – wenn sie wollten – bis in ihre Kindheit zurückverfolgen. Irgendwann in Ihrer frühen Kindheit haben Sie gelernt, ein bestimmtes Objekt von einem anderen zu unterscheiden und es mit der Zeichenfolge ‚B-U-C-H‘ zu benennen, und Sie haben erfahren, dass man mit so einem Buch ganz fantastische Dinge tun kann. Der wesentliche Punkt ist, und die Psychologie bestätigt diese Tatsache, dass Sie irgendwann einmal gelernt haben, was ein Buch, ein Tisch oder ein Auto ist. Solange Sie es nicht lernen, solange Sie diese Objekte kognitiv nicht unterscheiden können, solange können Sie sie auch nicht benutzen oder genauer beobachten. Ein Säugling mag zufällig eine Seite dieses Buches herausreißen und von der Sensation des reißenden Geräusches, der kuriosen Verdopplung des weißen Etwas (was es später einmal ‚Papier‘ nennen wird) und seinen scharfen Kanten beeindruckt sein. Es weiß aber nicht, dass es ein Buch in der Hand hält, wozu es dient, noch kann es den Inhalt studieren. Der Säugling muss erst lernen, was ein Buch ist und wozu es dient.
Unsere Außenwelterfahrung besteht nun aus mehr als nur einem Buch. Wir erfahren tagtäglich Menschen unterschiedlichsten Aussehens und Charakters, Objekte unterschiedlichster Farbe, Form und Funktion, wir erfahren unterschiedlichste Symbole, die auf die vielfältigsten Dinge zeigen, wir erfahren Sprache und Bedeutungen. Aus alle dem erzeugen wir die große Symphonie unserer Außenwelterfahrung, und unsere Psyche ist zu einem großen Umfange stark an der Erschaffung dieser Außenwelterfahrung beteiligt. Was wir von der Welt erfahren, erfahren wir, weil uns unsere Psyche dazu bemächtigt. Was nun die Übereinstimmung von der tatsächlichen Außenwelt und unserer Außenwelterfahrung angeht, ist dies eins der spannendsten Themen überhaupt: Wie kommt es etwa, dass wir uns so gut auf die Übereinstimmung von unserer Erfahrung und der Außenwelt an sich verlassen können, und das Buch dort vorfinden, wo wir es hingelegt haben? Was genau geschieht, wenn diese Übereinstimmung teilweise verloren geht, wie etwa bei der Schizophrenie, bei der der Mensch Personen oder Dinge sieht, die gar nicht da sind, oder Objekte mit Eigenschaften ausstattet, die es gar nicht hat, wie etwa sprechende Steckdosen?
Auf der anderen Seite sind wir, auch wenn wir nicht schizophren sind, alle so etwas wie einer kollektiven Halluzination aufgesessen, nämlich dem Glauben, unsere Sinne würden die Welt eins zu eins widerspiegeln und unsere Wahrnehmung zeigt die Dinge eben so, wie sie sind. Der amerikanische Philosoph Ken Wilber nennt diesen Trugschluss den Mythos des Gegebenen. Als psychische Beobachter können wir aber den Raum der Psyche nicht verlassen, und wir kennen alle die Gefahr und wissen, was geschieht, wenn wir uns dieses Trugschlusses nicht bewusst sind und plötzlich mit Anderen – im größeren oder kleineren Umfang – in eine Auseinandersetzung über die ‚Ist-heiten‘ dieser Welt geraten: Ob dieses Buch oder jener Film gut ‚ist‘ oder nicht, ob der spanische Stierkampf oder Umweltschutz an sich schlecht und verurteilungswürdig ‚ist‘ oder nicht, ob der eigene finanzielle Erfolg oder die eigene Krankheit an sich gut oder schlecht ‚ist‘ usw. Der Nutzen, den diese durchaus postmoderne Einsicht an die Beobachterabhängigkeit und Subjektivität der Welterfahrung mit sich bringt, liegt deshalb in einer erhöhten kommunikativen Sensibilität der Welterfahrung des anderen gegenüber.
Der Punkt ist, wir können unsere Psyche bzw. unsere psychischen Prozesse nicht von unserer Erfahrung trennen, rechnen wir diese Erfahrung nun Innen oder Außen zu. Diese Tatsache, kombiniert mit unserem Drang, Prozesse zu verdinglichen, führte übrigens den Psychologen William James dazu, überhaupt nicht mehr von Psyche und Bewusstsein zu sprechen, sondern nur noch von ‚Erfahrung‘. Wenn ich also im Folgenden von Psyche spreche, und ich schließe mich da James an, meine ich die Gesamtheit und den Gesamtzusammenhang aller Erfahrung, wobei diese Erfahrung unsere Gedanken, Vorstellungen, Zustände, Träume, Emotionen oder Gefühle (Achtung: Nominalisierungen!) ebenso miteinschließt wie die Beobachtung der ‚äußeren‘ Objekte. Überhaupt kann man den Prozessaspekt der Erfahrung – und damit der Psyche – nicht überbetonen. Unsere Psyche, unser Bewusstsein und unsere Erfahrung pulsieren in und mit der Zeit (Achtung: Nominalisierung!), und erzeugt sich von Moment zu Moment selbst. Wie genau sie dies tut, wollen wir weiter unten untersuchen. Zunächst aber wollen wir einen genaueren Blick auf den Strom unserer Erfahrung selbst werfen.

Details zum Buch:
  • Format: 14,3 x 21 cm
  • 170 Seiten
  • Paperback
  • ISBN: 978-3933321497
  • Unser Preis: 19,90€
Bestellbar bei:
Ebook:
  • Unser Preis: 4,00€
  • Format: Kindle (.prc), epub