Klappentext:
Silvio Wirth präsentiert in diesem Buch eine Vision des Tantra, die die Weisheiten des traditionellen Tantras mit den jüngsten spirituellen und psychologischen Erkenntnissen verbindet. Das integrale Tantra wird so zu einer spirituellen Lebenspraxis, die die heilige Dimension der Polarität von Mann und Frau in den Vordergrund der menschlichen Entwicklung rückt. Der Autor integriert auch in aufgeklärter Weise lebensnahe Themen wie Sex, Macht und Beziehungen, die in der Spiritualität bislang häufig eine untergeordnete Rolle gespielt haben.
„Integrales Tantra ist ein Versuch, die Methode und Weisheit der tantrischen Schulen systematisch für den westlichen Menschen von heute anzupassen. Tantra wird so zum ganzheitlichen Weg für unsere Zeit, der Liebe, Sexualität und Intimität einschließt.”
Aus dem Buch:
Vorwort
Die traditionelle Spiritualität, als ein Bemühen zu letztendlicher Wirklichkeitserkenntnis, folgt in vielen Varianten der Empfehlung ‚Meide die Vielen und suche das EINE‘. Seit der Entdeckung des ‚allzu Offensichtlichen‘ lange vor dem Beginn unserer modernen Zeitrechnung – als einer Absolutheit oder Leerheit (oder Gott), aus der alle Formen und Manifestationen entstehen und wieder vergehen – wurde die Verwirklichung dieses ‚Seinsgrundes‘ als das letztendliche Ziel jedes Erkenntnisstrebens angesehen. Die Welt der Erscheinungen galt demgegenüber als illusionär und bestenfalls als hinderlich oder schlimmstenfalls als schlecht und böse auf dem Weg zur endgültigen Befreiung und Erlösung.
Doch dann geschah, kurz nach Beginn unserer Zeitrechnung, eine Revolution, bei der Praktizierende immer tiefer in die Leerheit des Seinsgrundes eindrangen und erkannten, dass Form und Leerheit nicht verschieden, sondern zwei Seiten ein und derselben Münze sind, als die zwei Seiten oder Aspekte einer nicht-dualen Wirklichkeit. Daraus entwickelte sich in kurzer Zeit eine neue Form von Spiritualität und Erkenntnisstreben, die nun nicht mehr die Vielen mied, um das Eine zu finden, sondern – im Gegenteil – die Vielen, d. h. die gesamte Manifestation in ihrer Fülle und Vergänglichkeit, als einen Ausgangspunkt nahm zur Verwirklichung einer Seins- und Erkenntnisweise, die sowohl die manifeste als auch die unmanifeste Seite der Existenz (an)erkennt, würdigt, lebt und feiert, mit all der Freude und all dem Leid, welches damit verbunden ist. Diese Revolution, die nicht-duale oder tantrische Revolution, dauert bis heute an, und wir finden in unserer Zeit sowohl Menschen, die auf dem traditionellen Erkenntnisweg unterwegs sind und zuerst nach der Erfahrung des Seinsgrundes streben, als auch Menschen, die im weitesten Sinn tantrisch orientiert sind und die Welt der Formen und Erscheinungen als ihren Ausgangspunkt zur Selbst-, Welt- und Seinserfahrung nehmen.
Beide Wege haben ihre Stärken und auch ihre Fallen. Bei der Orientierung hin zur Absolutheit kann die Welt der Formen und das ganz normale Leben aus dem Auge verloren werden, mit Konsequenzen von Ignoranz und Unwissenheit gegenüber einer sich entwickelnden Welt, einschließlich der eigenen persönlichen Bedingtheiten und Beschränkungen mit denen die Welt und das Leben wahrgenommen werden. Durch Beispiele vieler spiritueller Lehrer oder ‚Erwachter‘ ist deutlich geworden, dass die Erfahrung des Seinsgrundes oder der Absolutheit nicht automatisch zu Einsichten und Erkenntnissen über die relative und bedingte Welt führt, und daher wenden sich moderne Lehrer verstärkt auch dem Studium der Wissenschaft und eigener (auch therapeutischer und biografischer) Selbstreflektion zu, in dem Bemühen einer nicht-dualen Erkenntnis, die sowohl die Leerheit als auch die Formen umfasst.
Der tantrische Weg nimmt die Welt der Formen und Erscheinungen direkt als seinen Ausgangspunkt, um bei deren Durchdringung auf dasjenige zu stoßen, was allem Vergänglichen zugrunde liegt. Dabei werden oft gerade die schwierigen oder „saftigen“ Bereiche menschlicher Existenz wie Sexualität, Ernährung, Beziehung, Konflikt, schwierige Emotionen, Macht/Ohnmacht oder Geld als besondere Gelegenheiten und Herausforderungen verstanden, um die Verkörperung des Absoluten im Relativen zu meistern. Was ist, so könnte die tantrische Fragestellung lauten, eine Spiritualität, Lebenspraxis oder ein Erkenntnisweg letztendlich wert, wenn er sich nicht in den zutiefst menschlichen, und gerade auch konfliktreichsten Erfahrungsbereichen wie Beziehung und Sexualität bewährt?
Die mutige Untersuchung und Antwort auf diese Frage ist der tantrische Weg, und wie man ihn gehen kann, ohne sich dabei in der Welt der Formen und Erscheinungen zu verlieren, erläutert dieses Buch. Die dabei zugrunde gelegte Landkarte ist die integrale Theorie und Praxis, wie sie von Ken Wilber und anderen in den zurückliegenden Jahrzehnten entwickelt wurde, als ein Hilfsmittel und Ausgangspunkt zu Sichtung und Beschreibung der Fülle tantrischer Erfahrungen, sowohl aus den Traditionen als auch aus der Lebenspraxis des Autors. Dabei werden im besten Sinne eines entwicklungsgemäßen „transzendiere und bewahre“ sowohl die Schätze der tantrischen Traditionen gehoben, als auch auf deren Begrenzungen im Lichte heutiger Erkenntnisse hingewiesen. Daran schließt sich eine ebenso gründliche wie lebensnahe Erörterung eines zeitgemäßen integralen Tantra als Teil einer Lebenspraxis an, unter Einbezug all dessen, was ein menschliches Leben menschlich, aber auch herausfordernd macht – wie z. B. Emotionen, Ethik, Sexualität, Beziehungen, Arbeit, Kunst und der Alltag insgesamt.
Was mir am tantrischen Weg generell, und speziell an diesem Buch sehr gefällt ist die unbedingte Hinwendung zum Leben in allen seinen Formen, Erscheinungen, Schwierigkeiten und Freuden. Dahinter steht eine unbedingte Lebensbejahung, gepaart mit einer Experimentierfreude und dem Verlangen, aktiv gestaltend am Spiel des Lebens teilzunehmen. Dies entspricht dem, was poetisch als ‚schöpferischer Impuls‘ und technisch als ‚Selbstorganisation‘ beschrieben wird, als die unbändige Kraft und Freude des EINEN zur Erschaffung der Vielen, die dieses Universum von Anbeginn an antreibt. In der völligen Durchdringung und intensiven Durchlebung unserer Körperlichkeit, Emotionen und Gedanken kommt dasjenige besonders zum Leuchten, was bereits von Anbeginn an alle Manifestation trägt, als ein müheloses sich Zeigen des allzu Offensichtlichen. Dieser Weg ist, wie alle radikalen, d. h. an die Wurzel des Seins greifenden Wege, nicht ohne Gefahren, und die Anzahl derer, die, besonders aus der „anything-goes“ Generation unserer Zeit, auf einer seiner Stationen stecken geblieben sind, ist Legion. Umso erfreulicher ist es, mit diesem Buch einen wirklichen Wegbegleiter für das Abenteuer eines integralen Tantra in der Hand zu haben, als einer faszinierenden und aufregenden Möglichkeit der von Ken Wilber formulierten Aussage „Lebe dein endliches Selbst und ruhe in der Unendlichkeit“ auf eine lebendige, lust- und liebevolle Weise Ausdruck zu verleihen.
Michael Habecker, Integrales Forum
Einleitung
Seit sich Tantra Ende des letzten Jahrhunderts im Westen ausgebreitet hat, ist einige Verwirrung entstanden, was es denn überhaupt ist: Für den einen ist es eine Art erotischer Massage, für den anderen eine Liebesschule für Paare und für einen Dritten vielleicht Kamasutra-Sex mit Räucherstäbchen. Ab und zu hört man vielleicht, dass sich hinter dem Tantra ein tiefsinniger spirituell-yogischer Weg verbirgt, der in Indien und Tibet gelehrt wurde. Manche haben auch von den Einweihungen des Dalai-Lama ins Kalachakra-Tantra erfahren und fragen sich, ob es sich bei der Praxis tibetischer Mönche wirklich um dieselbe Sache handelt wie das, was man in einschlägigen Workshops in Seminarhäusern lernen kann, oder um ganz verschiedene Dinge, die nur aus Versehen den Namen miteinander teilen?
Ich möchte die Zusammenhänge beleuchten und ins rechte Licht rücken. Ich hoffe, dieses Buch trägt dazu bei, dass manche Vorurteile über Tantra – sei es jetzt das ursprüngliche indische oder auch das moderne Neo-Tantra – relativiert werden können. Es gibt leider bisher nur wenige Bücher, die sich sowohl mit der tantrischen Tradition als auch mit den zeitgenössischen Tantra-Varianten ausführlich beschäftigen, ohne das eine oder das andere abzuwerten oder zu ignorieren. Dieses Buch soll diese Lücke schließen und einen großzügigen Überblick über das ganze Tantra ermöglichen.
Ich werde den Weg des Tantra als einen Pfad der Energie skizzieren, dessen zentrales Unterfangen es ist, mithilfe der Erweckung verborgenen Energien des Körpers zu einem dauerhaften höheren Bewusstseinszustand zu kommen. Tantra ist sogar noch mehr: ein Weg, der in allen Formen und Erscheinungen das Erwachen zum Einen Geschmack möglich macht. Dann werde ich die verschiedenen Unterpfade vorstellen, die dieser Weg im Lauf der Jahrhunderte angenommen hat, und eine Synthese vorschlagen, die einen zeitgemäßen tantrischen Weg für den Westen vorschlägt: das integrale Tantra.
Integrales Tantra bedient sich respektvoll der alten Methoden des klassischen Tantra und Yoga und erweitert und ergänzt sie mit westlichen, neo-tantrischen Methoden. Ich unternehme damit einen weiteren ambitionierten Versuch, die Methode und Weisheit der tantrischen Schulen systematisch für den westlichen Menschen von heute anzupassen und dabei fundiert vorzugehen. Tantra soll auf diese Weise zu einem ganzheitlichen und attraktiven Weg für unsere Zeit werden, der Liebe, Sexualität und Intimität einschließt (ohne sie zu überbetonen).
Einige Bemerkungen zu Aufbau und Sprache dieses Buches
Integrales Tantra wird hier verstanden als eine Synthese der verschiedenen Tantra-Methoden, deren Rahmen die integrale Theorie Ken Wilbers bildet. Im ersten Teil werde ich klassisches und modernes Tantra sowie die integrale Theorie ausführlich besprechen. Dabei ist meine wiederkehrende Fragestellung, in welcher Form Tantra als Weg für Menschen von heute tauglich ist. Ich hoffe auch, zeigen zu können, das Tantra weit mehr als nur der ‚Pfad der Sexualität‘ ist, sondern von Anfang an und bis heute als ein vielseitiger Ansatz zur menschlichen Weiterentwicklung verstanden werden kann.
Im zweiten Teil werde ich zum Kern der Sache kommen und Ideen zu einer ganzheitlichen und zeitgemäßen Tantra-Praxis vorstellen, geordnet nach verschiedenen ‚Modulen‘ oder Lebensbereichen wie Körper, Spiritualität, Psychodynamik etc.
Ich hoffe, es ist mir gelungen, trotz der vielen Fachbegriffe, die bei einem solchen Unterfangen nicht fehlen können, den Leser nicht zu sehr mit Jargon zu überfordern. Ich habe mich mit Sanskritbegriffen zurückgehalten; sie werden den Text hier und da aber doch sehr prägen. Dabei habe ich versucht, die gebräuchlichste Schreibweise zu nutzen, die im Westen gut lesbar ist, wie etwa ‚Shiva‘ statt ‚Siva‘. Auf Sonderzeichen habe ich verzichtet. Indologen und Sanskrit-Kenner mögen mir das nachsehen.
Der Verständlichkeit halber habe ich mich entschieden, in der Regel die männliche Form zu wählen. Ich bitte hier um Verständnis. Selbstverständlich ist das integrale Tantra ein Weg, der sich auch an Frauen richtet, die ich in keinster Weise ausschließen möchte.
Klappentext:
Silvio Wirth präsentiert in diesem Buch eine Vision des Tantra, die die Weisheiten des traditionellen Tantras mit den jüngsten spirituellen und psychologischen Erkenntnissen verbindet. Das integrale Tantra wird so zu einer spirituellen Lebenspraxis, die die heilige Dimension der Polarität von Mann und Frau in den Vordergrund der menschlichen Entwicklung rückt. Der Autor integriert auch in aufgeklärter Weise lebensnahe Themen wie Sex, Macht und Beziehungen, die in der Spiritualität bislang häufig eine untergeordnete Rolle gespielt haben.
„Integrales Tantra ist ein Versuch, die Methode und Weisheit der tantrischen Schulen systematisch für den westlichen Menschen von heute anzupassen. Tantra wird so zum ganzheitlichen Weg für unsere Zeit, der Liebe, Sexualität und Intimität einschließt.”
Aus dem Buch:
Vorwort
Die traditionelle Spiritualität, als ein Bemühen zu letztendlicher Wirklichkeitserkenntnis, folgt in vielen Varianten der Empfehlung ‚Meide die Vielen und suche das EINE‘. Seit der Entdeckung des ‚allzu Offensichtlichen‘ lange vor dem Beginn unserer modernen Zeitrechnung – als einer Absolutheit oder Leerheit (oder Gott), aus der alle Formen und Manifestationen entstehen und wieder vergehen – wurde die Verwirklichung dieses ‚Seinsgrundes‘ als das letztendliche Ziel jedes Erkenntnisstrebens angesehen. Die Welt der Erscheinungen galt demgegenüber als illusionär und bestenfalls als hinderlich oder schlimmstenfalls als schlecht und böse auf dem Weg zur endgültigen Befreiung und Erlösung.
Doch dann geschah, kurz nach Beginn unserer Zeitrechnung, eine Revolution, bei der Praktizierende immer tiefer in die Leerheit des Seinsgrundes eindrangen und erkannten, dass Form und Leerheit nicht verschieden, sondern zwei Seiten ein und derselben Münze sind, als die zwei Seiten oder Aspekte einer nicht-dualen Wirklichkeit. Daraus entwickelte sich in kurzer Zeit eine neue Form von Spiritualität und Erkenntnisstreben, die nun nicht mehr die Vielen mied, um das Eine zu finden, sondern – im Gegenteil – die Vielen, d. h. die gesamte Manifestation in ihrer Fülle und Vergänglichkeit, als einen Ausgangspunkt nahm zur Verwirklichung einer Seins- und Erkenntnisweise, die sowohl die manifeste als auch die unmanifeste Seite der Existenz (an)erkennt, würdigt, lebt und feiert, mit all der Freude und all dem Leid, welches damit verbunden ist. Diese Revolution, die nicht-duale oder tantrische Revolution, dauert bis heute an, und wir finden in unserer Zeit sowohl Menschen, die auf dem traditionellen Erkenntnisweg unterwegs sind und zuerst nach der Erfahrung des Seinsgrundes streben, als auch Menschen, die im weitesten Sinn tantrisch orientiert sind und die Welt der Formen und Erscheinungen als ihren Ausgangspunkt zur Selbst-, Welt- und Seinserfahrung nehmen.
Beide Wege haben ihre Stärken und auch ihre Fallen. Bei der Orientierung hin zur Absolutheit kann die Welt der Formen und das ganz normale Leben aus dem Auge verloren werden, mit Konsequenzen von Ignoranz und Unwissenheit gegenüber einer sich entwickelnden Welt, einschließlich der eigenen persönlichen Bedingtheiten und Beschränkungen mit denen die Welt und das Leben wahrgenommen werden. Durch Beispiele vieler spiritueller Lehrer oder ‚Erwachter‘ ist deutlich geworden, dass die Erfahrung des Seinsgrundes oder der Absolutheit nicht automatisch zu Einsichten und Erkenntnissen über die relative und bedingte Welt führt, und daher wenden sich moderne Lehrer verstärkt auch dem Studium der Wissenschaft und eigener (auch therapeutischer und biografischer) Selbstreflektion zu, in dem Bemühen einer nicht-dualen Erkenntnis, die sowohl die Leerheit als auch die Formen umfasst.
Der tantrische Weg nimmt die Welt der Formen und Erscheinungen direkt als seinen Ausgangspunkt, um bei deren Durchdringung auf dasjenige zu stoßen, was allem Vergänglichen zugrunde liegt. Dabei werden oft gerade die schwierigen oder „saftigen“ Bereiche menschlicher Existenz wie Sexualität, Ernährung, Beziehung, Konflikt, schwierige Emotionen, Macht/Ohnmacht oder Geld als besondere Gelegenheiten und Herausforderungen verstanden, um die Verkörperung des Absoluten im Relativen zu meistern. Was ist, so könnte die tantrische Fragestellung lauten, eine Spiritualität, Lebenspraxis oder ein Erkenntnisweg letztendlich wert, wenn er sich nicht in den zutiefst menschlichen, und gerade auch konfliktreichsten Erfahrungsbereichen wie Beziehung und Sexualität bewährt?
Die mutige Untersuchung und Antwort auf diese Frage ist der tantrische Weg, und wie man ihn gehen kann, ohne sich dabei in der Welt der Formen und Erscheinungen zu verlieren, erläutert dieses Buch. Die dabei zugrunde gelegte Landkarte ist die integrale Theorie und Praxis, wie sie von Ken Wilber und anderen in den zurückliegenden Jahrzehnten entwickelt wurde, als ein Hilfsmittel und Ausgangspunkt zu Sichtung und Beschreibung der Fülle tantrischer Erfahrungen, sowohl aus den Traditionen als auch aus der Lebenspraxis des Autors. Dabei werden im besten Sinne eines entwicklungsgemäßen „transzendiere und bewahre“ sowohl die Schätze der tantrischen Traditionen gehoben, als auch auf deren Begrenzungen im Lichte heutiger Erkenntnisse hingewiesen. Daran schließt sich eine ebenso gründliche wie lebensnahe Erörterung eines zeitgemäßen integralen Tantra als Teil einer Lebenspraxis an, unter Einbezug all dessen, was ein menschliches Leben menschlich, aber auch herausfordernd macht – wie z. B. Emotionen, Ethik, Sexualität, Beziehungen, Arbeit, Kunst und der Alltag insgesamt.
Was mir am tantrischen Weg generell, und speziell an diesem Buch sehr gefällt ist die unbedingte Hinwendung zum Leben in allen seinen Formen, Erscheinungen, Schwierigkeiten und Freuden. Dahinter steht eine unbedingte Lebensbejahung, gepaart mit einer Experimentierfreude und dem Verlangen, aktiv gestaltend am Spiel des Lebens teilzunehmen. Dies entspricht dem, was poetisch als ‚schöpferischer Impuls‘ und technisch als ‚Selbstorganisation‘ beschrieben wird, als die unbändige Kraft und Freude des EINEN zur Erschaffung der Vielen, die dieses Universum von Anbeginn an antreibt. In der völligen Durchdringung und intensiven Durchlebung unserer Körperlichkeit, Emotionen und Gedanken kommt dasjenige besonders zum Leuchten, was bereits von Anbeginn an alle Manifestation trägt, als ein müheloses sich Zeigen des allzu Offensichtlichen. Dieser Weg ist, wie alle radikalen, d. h. an die Wurzel des Seins greifenden Wege, nicht ohne Gefahren, und die Anzahl derer, die, besonders aus der „anything-goes“ Generation unserer Zeit, auf einer seiner Stationen stecken geblieben sind, ist Legion. Umso erfreulicher ist es, mit diesem Buch einen wirklichen Wegbegleiter für das Abenteuer eines integralen Tantra in der Hand zu haben, als einer faszinierenden und aufregenden Möglichkeit der von Ken Wilber formulierten Aussage „Lebe dein endliches Selbst und ruhe in der Unendlichkeit“ auf eine lebendige, lust- und liebevolle Weise Ausdruck zu verleihen.
Michael Habecker, Integrales Forum
Einleitung
Seit sich Tantra Ende des letzten Jahrhunderts im Westen ausgebreitet hat, ist einige Verwirrung entstanden, was es denn überhaupt ist: Für den einen ist es eine Art erotischer Massage, für den anderen eine Liebesschule für Paare und für einen Dritten vielleicht Kamasutra-Sex mit Räucherstäbchen. Ab und zu hört man vielleicht, dass sich hinter dem Tantra ein tiefsinniger spirituell-yogischer Weg verbirgt, der in Indien und Tibet gelehrt wurde. Manche haben auch von den Einweihungen des Dalai-Lama ins Kalachakra-Tantra erfahren und fragen sich, ob es sich bei der Praxis tibetischer Mönche wirklich um dieselbe Sache handelt wie das, was man in einschlägigen Workshops in Seminarhäusern lernen kann, oder um ganz verschiedene Dinge, die nur aus Versehen den Namen miteinander teilen?
Ich möchte die Zusammenhänge beleuchten und ins rechte Licht rücken. Ich hoffe, dieses Buch trägt dazu bei, dass manche Vorurteile über Tantra – sei es jetzt das ursprüngliche indische oder auch das moderne Neo-Tantra – relativiert werden können. Es gibt leider bisher nur wenige Bücher, die sich sowohl mit der tantrischen Tradition als auch mit den zeitgenössischen Tantra-Varianten ausführlich beschäftigen, ohne das eine oder das andere abzuwerten oder zu ignorieren. Dieses Buch soll diese Lücke schließen und einen großzügigen Überblick über das ganze Tantra ermöglichen.
Ich werde den Weg des Tantra als einen Pfad der Energie skizzieren, dessen zentrales Unterfangen es ist, mithilfe der Erweckung verborgenen Energien des Körpers zu einem dauerhaften höheren Bewusstseinszustand zu kommen. Tantra ist sogar noch mehr: ein Weg, der in allen Formen und Erscheinungen das Erwachen zum Einen Geschmack möglich macht. Dann werde ich die verschiedenen Unterpfade vorstellen, die dieser Weg im Lauf der Jahrhunderte angenommen hat, und eine Synthese vorschlagen, die einen zeitgemäßen tantrischen Weg für den Westen vorschlägt: das integrale Tantra.
Integrales Tantra bedient sich respektvoll der alten Methoden des klassischen Tantra und Yoga und erweitert und ergänzt sie mit westlichen, neo-tantrischen Methoden. Ich unternehme damit einen weiteren ambitionierten Versuch, die Methode und Weisheit der tantrischen Schulen systematisch für den westlichen Menschen von heute anzupassen und dabei fundiert vorzugehen. Tantra soll auf diese Weise zu einem ganzheitlichen und attraktiven Weg für unsere Zeit werden, der Liebe, Sexualität und Intimität einschließt (ohne sie zu überbetonen).
Einige Bemerkungen zu Aufbau und Sprache dieses Buches
Integrales Tantra wird hier verstanden als eine Synthese der verschiedenen Tantra-Methoden, deren Rahmen die integrale Theorie Ken Wilbers bildet. Im ersten Teil werde ich klassisches und modernes Tantra sowie die integrale Theorie ausführlich besprechen. Dabei ist meine wiederkehrende Fragestellung, in welcher Form Tantra als Weg für Menschen von heute tauglich ist. Ich hoffe auch, zeigen zu können, das Tantra weit mehr als nur der ‚Pfad der Sexualität‘ ist, sondern von Anfang an und bis heute als ein vielseitiger Ansatz zur menschlichen Weiterentwicklung verstanden werden kann.
Im zweiten Teil werde ich zum Kern der Sache kommen und Ideen zu einer ganzheitlichen und zeitgemäßen Tantra-Praxis vorstellen, geordnet nach verschiedenen ‚Modulen‘ oder Lebensbereichen wie Körper, Spiritualität, Psychodynamik etc.
Ich hoffe, es ist mir gelungen, trotz der vielen Fachbegriffe, die bei einem solchen Unterfangen nicht fehlen können, den Leser nicht zu sehr mit Jargon zu überfordern. Ich habe mich mit Sanskritbegriffen zurückgehalten; sie werden den Text hier und da aber doch sehr prägen. Dabei habe ich versucht, die gebräuchlichste Schreibweise zu nutzen, die im Westen gut lesbar ist, wie etwa ‚Shiva‘ statt ‚Siva‘. Auf Sonderzeichen habe ich verzichtet. Indologen und Sanskrit-Kenner mögen mir das nachsehen.
Der Verständlichkeit halber habe ich mich entschieden, in der Regel die männliche Form zu wählen. Ich bitte hier um Verständnis. Selbstverständlich ist das integrale Tantra ein Weg, der sich auch an Frauen richtet, die ich in keinster Weise ausschließen möchte.